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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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ich wirklich Schiß.«
    »Denkst du, er kommt hinter seinem Sichtschutz hervor und holt dich?«
    »Ja!«
    »Setz dich hin und iß deinen Salat. Du kennst doch den Spruch von Hitchcock, daß der Film fertig ist, sobald er den Zeichner das letzte Szenenbild hat malen lassen? Unser Film ist jetzt fertig. Das hier hat ihn vollendet. Er ist im Kasten.«
    »Wie kommt es nur, daß ich mich schäme?« Ich ließ mich wieder in den Stuhl plumpsen, vermied jedoch, auf Roys Block zu schielen.
    »Weil du nicht er bist, und er ist nicht du. Danke Gott im Himmel für sein Erbarmen. Was ist, wenn ich das hier zerreiße und wir einfach weggehen? Wieviele Monate sollen wir noch suchen, bis wir wieder etwas so Trauriges und Furchtbares finden wie das hier?«
    Ich mußte schlucken. »Nie wieder.«
    »Genau. Diese Nacht ist einmalig. Also bleib ruhig sitzen, iß auf und warte ab.«
    »Gut, ich werde warten, doch ich kann nicht ruhig sitzen, und ich werde unheimlich traurig.«
    Roy schaute mich direkt an. »Siehst du diese Augen?«
    »Ja.«
    »Was siehst du?«
    »Tränen.«
    »Was beweist, daß er mir genauso leid tut wie dir, aber ich kann es nun mal nicht ändern. Reg dich ab. Trink einen Schluck.«
    Er goß mir mehr Champagner ein.
    »Schmeckt ekelhaft«, sagte ich.
    Roy malte und das Gesicht war wieder da. Ein Gesicht, das sich in einem Zustand völligen Zerfalls befand. Geradeso, als wäre sein Bewohner, der Geist hinter der Erscheinung, tausend Meilen gerannt und geschwommen, und nun ging er unter und starb. Falls hinter dem Fleisch Knochen waren, dann waren sie zertrümmert und wieder neu zusammengesetzt, hatten insektengleiche Formen angenommen, fremdartige Fassaden, die den Ruin verbargen. Falls es hinter den Knochen ein Bewußtsein gab, das in den Höhlen der Netzhaut und des Trommelfells hauste, dann sandte er seine verzweifelten Signale unablässig durch die umherirrenden Augenteiche aus.
    Und dennoch, nachdem das Essen serviert und der Champagner kredenzt worden war, wurden Roy und ich von unglaublichen Lachsalven, die von den Wänden hinter der Sichtblende zurückprallten, regelrecht durchsiebt. Die Dame ging anfangs nicht darauf ein, doch im Lauf der Zeit steigerte sich ihr stilles Wohlgefallen zu beinahe ebenso lauter Fröhlichkeit. Während sein Lachen aber so klar und ehrlich wie das Läuten einer Glocke klang, bewegte sich das ihre am Rand der Hysterie.
    Ich trank viel, um mir Mut zu machen. Als die Flasche Champagner geleert war, brachte der Oberkellner eine neue und winkte ab, als ich in meiner leeren Brieftasche herumfummelte.
    »Groc«, sagte er nur, doch Roy hörte nichts. Er malte eine Seite seines Blocks nach der anderen voll, und je weiter die Zeit voranschritt und je mehr das Gelächter anschwoll, um so grotesker wurden seine Skizzen, als trieben die Schreie ungetrübter Freude seine Erinnerung vorwärts und füllten Blatt um Blatt. Schließlich verebbte das Gelächter. Ein leises Rascheln war zu hören, die Vorbereitungen zum Aufbruch hinter der Sichtblende, und dann stand der Oberkellner an unserem Tisch.
    »Entschuldigen Sie«, murmelte er. »Wir schließen jetzt. Darf ich Sie bitten?« Er nickte zur Tür hin, trat zur Seite und zog unseren Tisch ein Stück nach vorne. Roy stand auf. Er blickte zum Tisch mit der Spanischen Wand hinüber.
    »Nein«, sagte der Oberkellner. »Es gehört sich so, daß Sie zuerst gehen.«
    Ich war schon halb draußen und mußte mich noch einmal umdrehen. »Roy?« rief ich. Erst dann kam mir Roy nach. Er ging rückwärts hinaus, als müsse er ein Theater verlassen, in dem das Stück noch nicht zu Ende ist.
    Als Roy und ich ins Freie traten, hielt ein Taxi am Straßenrand. Bis auf einen mittelgroßen Mann in einem langen Kamelhaarmantel, der dicht am Rinnstein und mit dem Rücken zu uns stand, war die Straße menschenleer. Die Aktenmappe, die der Mann unter den Arm geklemmt hielt, verriet ihn. In den Sommern meiner Kindheit und auch später noch hatte ich diese Mappe Tag für Tag gesehen, vor den Columbia-Filmstudios, vor Paramount, vor MGM und vor allen anderen. Damals war sie voll mit wunderhübsch gezeichneten Porträts von Garbo, Colman, Gable, Harlow, und im Laufe der Zeit mit tausend anderen, alle mit dunkelroter Tinte signiert. Und alle von einem verrückten, darüber alt gewordenen Autogrammjäger gesammelt. Ich zögerte erst, doch dann blieb ich stehen.
    »Clarence?« rief ich.
    Der Mann zuckte zusammen, als wollte er nicht erkannt werden.
    »Du bist es doch, oder?« sagte

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