Friedhof für Verrückte
Sonnenaufgang. Inmitten des Tumults entdeckte Fritz mich und Constance und machte seinem Assistenten ein Zeichen. Der kam angerannt, ich reichte ihm die fünf Manuskriptseiten, und der Assistent eilte durch die Menschenmenge zurück.
Ich beobachtete, wie Fritz, der mir den Rücken zugewandt hatte, meinen Szenenentwurf durchblätterte. Ich sah, wie er plötzlich den Kopf in den Nacken legte. Nach einigen Sekunden, die mir wie Ewigkeiten vorkamen, drehte er sich um, und ohne mich eines Blickes zu würdigen, packte er ein Megaphon. Er brüllte. Sofort herrschte absolute Ruhe.
»Alle mal herhören. Wer sitzen kann, der sitze. Die anderen machen es sich im Stehen bequem. Bevor der neue Tag anbricht, wird Jesus hier erschienen und wieder von uns gegangen sein. Folgendermaßen sehen wir ihn, wenn alles fertig ist und wir nach Hause gehen. Hört zu.«
Daraufhin las er die Seiten meiner letzten Szene vor, Wort für Wort, eine Seite nach der anderen, mit ruhiger und doch klarer Stimme, und weder verdrehte jemand den Kopf, noch scharrten ungeduldige Füße. Ich konnte es kaum glauben. Das waren meine Worte, über den See im Morgengrauen, das Fischwunder, die bleiche Gestalt Christi am Ufer, die gebackenen Fische im Kohlenfeuer, von dem der Wind einen warmen Funkenregen forttrug, und die Jünger, die dort schweigend und aufmerksam, mit geschlossenen Augen, lauschen, und das Blut des Erlösers, das von seinen Wunden an den Handgelenken in die Glut tropft, während er seine Abschiedsworte spricht, und die Glut, in der das Abendmahl nach dem Letzten Abendmahl zubereitet wird.
Bis Fritz Wong mit meinen letzten Worten endete.
Nicht der geringste Laut ertönte in den Reihen der Menschenmenge, der Phalanx, und inmitten der Stille schritt Fritz schließlich durch die Versammlung, bis er neben mir stand. Ich war inzwischen vom Überschwang der Gefühle halb blind geworden.
Fritz schaute einen Moment lang Constance verwundert an, nickte ihr schroff zu und stellte sich dann vor mich hin. Er nahm das Monokel vom Auge, packte meine rechte Hand und legte die Linse wie eine Auszeichnung, eine Medaille auf meine Handfläche. Dann schloß er meine Finger darüber.
»Nach dem heutigen Abend«, sagte er leise, »wirst du für mich sehen.«
Es war Auftrag, Befehl und Segensspruch in einem.
Dann schritt er davon. Das Monokel in der zitternden Faust sah ich ihm nach. Als er im Zentrum der schweigenden Menschenmenge angelangt war, schnappte er sich das Megaphon und brüllte: »Los, bewegt euch!«
Er würdigte mich keines Blickes mehr.
Constance nahm mich am Arm und führte mich weg.
38
Auf dem Weg zum Brown Derby ließ Constance, die sehr langsam fuhr, den Blick über die im Licht der Dämmerung vor uns liegenden Straßen schweifen und sagte: »Mein Gott, du glaubst an all das, stimmt doch, oder? Warum eigentlich?«
»Ganz einfach«, sagte ich. »Weil ich niemals etwas mache, das ich verabscheue oder an das ich nicht glaube. Wenn mir jemand einen Film über, sagen wir mal, Prostitution oder Alkoholismus anbieten würde, könnte ich kein Wort dazu schreiben. Ich würde nie eine Prostituierte aufsuchen, und in Besoffene kann ich mich nicht einfühlen. Ich mache nur das, was ich mag. Im Augenblick sind das, Gott sei Dank, Jesus in Galiläa bei seinem Abschied im Morgengrauen und seine Fußspuren im Sand. Ich bin kein hundertprozentiger Christ, aber als ich diese Szene bei Johannes fand, besser gesagt, als sie J. C. für mich fand, war es um mich geschehen. Wie hätte ich sie nicht schreiben können?«
»Genau.« Constance starrte mich an, so daß ich mich wegducken und auf die Straße zeigen mußte, um sie daran zu erinnern, daß sie immer noch am Steuer eines fahrenden Wagens saß.
»Glaub mir, Constance, ich bin nicht hinter dem Geld her. Wenn mir jemand Krieg und Frieden anbieten würde, ich würde es ablehnen. Ist Tolstoi schlecht? Nein. Ich verstehe ihn einfach nicht. Ich bin der bedauernswerte Tropf. Aber wenigstens weiß ich, daß ich das Drehbuch nicht schreiben könnte, weil ich nicht mit Haut und Haaren bei der Sache wäre. Mich zu engagieren wäre herausgeworfenes Geld. Ende der Vorlesung. Und hier«, sagte ich, als wir gerade daran vorbeisegelten und wieder umdrehen mußten, »ist das Brown Derby!«
Es war nicht gerade viel los. Das Brown Derby war beinahe leer, und im hinteren Teil des Lokals war keine spanische Wand aufgestellt.
»Verdammt«, murmelte ich.
Zu unserer Linken hatte ich eine Nische entdeckt. Dort war
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