Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
zufällig eine Leiter gesehen? Und einen Mann, der dort hinaufklettern wollte?«
    J. C. starrte zur Mauer hinüber. »In dieser Nacht regnete es.« J. C. reckte das Gesicht gen Himmel, um den Sturm zu spüren. »Wer ist so bescheuert, daß er bei Sturm da hinaufklettern würde?«
    »Du.«
    »Nein«, sagte J. C. »Noch nicht einmal jetzt bin ich hier oben!«
    Er streckte seine Arme aus, umfaßte den Querbalken, ließ den Kopf nach vorne sinken und schloß die Augen.
    »J. C!« rief ich. »Die warten unten auf dich.«
    »Die sollen ruhig warten.«
    »Jesus Christus kam rechtzeitig, verdammt nochmal! Die Welt wartete auf ihn. Und Er erschien!«
    »Du glaubst doch nicht etwa an diesen Quatsch?«
    »Doch!« Ich wunderte mich selbst, mit welcher Vehemenz ich ihm meine Antwort entgegenschleuderte, die ausgestreckten Glieder entlang bis zu seinem dornengekrönten Haupt hinauf.
    »Narr.«
    »Nein, bin ich nicht.« Ich überlegte, was Fritz wohl gesagt hätte, wenn er hier wäre, doch hier war nur ich, und so sagte ich: » Wir sind auf die Erde gekommen, J. C. Wir dumme Menschenwesen. Doch egal, ob wir oder Christus. Die Erde, oder Gott, brauchte uns, um die Welt zu sehen, sie zu erkennen. Also war es an uns! Doch wir fuhren den Karren in den Dreck, vergaßen, wie einmalig wir waren, und konnten uns nicht verzeihen, so ein Durcheinander angerichtet zu haben. Daher kam der Heiland nach uns, um uns zu predigen, was wir hätten wissen müssen: Vergebung. Tut Eure Arbeit. Die Ankunft des Erlösers sühnte unsere Schuld. Zweitausend Jahre lang haben wir nun die Erde bevölkert, mehr und immer mehr von uns, um Vergebung heischend. Ich wäre für alle Zeiten gelähmt, könnte ich mir die dummen Sachen, die ich in meinem Leben verzapft habe, nie verzeihen. Und du bist jetzt in die Ecke getrieben, haßt dich selbst, und deshalb bleibst du dort oben ans Kreuz genagelt, weil du ein vor Selbstmitleid zerfließender, schweinsköpfiger, beschränkter Schmierentragöde bist. Komm jetzt verdammt noch mal herunter, sonst klettere ich hoch und beiße dir in deine dreckigen Hacken!«
    Ein Geräusch ertönte, als bellte eine Meute Seehunde in der Nacht. J. C. hatte seinen Kopf in den Nacken geworfen und schnappte nach Luft, um sein Gelächter erneut zu entfachen.
    »Eine schöne Rede für einen Feigling!«
    »Vor mir müssen Sie sich nicht fürchten, Mister! Hüten Sie sich vor sich selbst, Herr Christus!«
    Ich spürte einen einzelnen Regentropfen auf meiner Wange.
    Nein. Ich berührte meine Wange, leckte an der Fingerspitze. Salz. Hoch oben lehnte sich J. C. weit nach vorne und starrte hinunter.
    »Mein Gott.« Er war gerührt. »Du machst dir wirklich Sorgen um mich!«
    »Ganz richtig. Und wenn ich weggehe, kommt Fritz Wong mit seiner Pferdepeitsche!«
    »Ich fürchte mich nicht vor seinem Erscheinen. Nur vor deinem Weggehen.«
    »Na schön, dann komm runter. Tu’s für mich!«
    »Für dich?!«
    »Du bist schön weit oben. Was siehst du drüben in Atelier 7?«
    »Sieht aus wie Feuer. Ja, Feuer.«
    »Das ist der Rost mit den Holzkohlen, J. C.« Ich streckte die Hand aus und berührte das Holzkreuz; leise rief ich zu der Gestalt mit dem erhobenen Kopf hinauf: »Und die Nacht ist beinahe vorüber, das Boot nähert sich dem Ufer, nach dem Wunder mit den Fischen, und Simon genannt Petrus geht mit Thomas und Markus und Lukas am Ufer entlang zu dem vorbereiteten Kohlenfeuer mit den gebratenen Fischen. Das –«
    »– Abendmahl nach dem Letzten Abendmahl«, murmelte J. C., der sich gegen den herbstlichen Sternenhimmel abhob. Ich konnte über seiner Schulter die Schulter des Orion sehen. »Du hast es tatsächlich geschafft!?«
    Er bewegte sich. Leise redete ich weiter: »Und noch mehr! Ich habe jetzt ein wahrhaftiges Ende für dich, eins, das noch nie zuvor gefilmt wurde. Die Himmelfahrt.«
    »Das ist unmöglich«, murmelte J. C.
    »Hör zu.«
    »Als die Zeit des Abschieds herannahte«, begann ich, »berührt Christus jeden einzelnen seiner Jünger und steigt dann das Ufer hinauf, von der Kamera weg. Die Kamera muß auf der Höhe des Sandes liegen, und es sieht aus, als würde er einen sanften Hügel hinaufschreiten. Dann geht die Sonne auf und Christus läuft weiter, in den Horizont hinein, der Sand flimmert, so wie die Luft manchmal auf Landstraßen und in der Wüste unwirkliche Dinge vorgaukelt, imaginäre Städte entstehen und wieder verschwinden läßt. Wenn Christus nun fast den Kamm der Sanddüne erreicht hat, zittert die Luft vor Hitze. Seine

Weitere Kostenlose Bücher