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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Dunkelheit.
    Stille.
    Ich umrundete ein langes Stück Sperrholz. Da saß jemand im Licht der Sterne, eine undeutliche Gestalt, die ihre Beine über die hölzerne Fassade der Kathedrale baumeln ließ, an genau der gleichen Stelle, an der vor einem halben Menschenleben der verunstaltete Glöckner selbst gesessen hatte.
    Das Monster.
    Es blickte hinaus auf die Stadt, auf die Millionen Lichter, die sich über sechshundert Quadratkilometer erstreckten.
    Wie bist du nur hierhergekommen? fragte ich mich. Wie bist du an den Wachmännern vorbeigekommen, oder halt, nein, was? Über die Mauer! Genau. Eine Leiter und die Friedhofsmauer!
    Ich hörte das Geräusch eines Vorschlaghammers. Ich hörte, wie ein Körper weggeschleift wurde; wie ein Truhendeckel zuknallte; wie ein Streichholz angezündet wurde; wie ein Verbrennungsofen fauchte.
    Ich sog scharf den Atem ein. Das Monster drehte sich um und starrte mich an.
    Ich stolperte und wäre beinahe von der Kante hinuntergefallen. Ich hielt mich an einem der Dämonen fest.
    Mit einem Satz sprang das Monster auf.
    Seine Hand packte die meine.
    Einen Atemzug lang torkelten wir auf der Brüstung der Kathedrale herum. Ich konnte seine Augen erkennen, angstvoll aufgerissen. Er blickte in meine angstvoll aufgerissenen Augen.
    Dann zog er seine Hand überrascht zurück, als hätte er sich verbrannt. Er ging ein Stück zurück, und wir standen uns leicht nach vorne gebeugt gegenüber.
    Ich schaute in dieses furchterregende Gesicht, sah die eingesperrten, entsetzten Augen, den wunden Mund, und dachte:
    Warum? Warum hast du mich vorhin nicht losgelassen? Oder mir einen Schubs gegeben? Du bist doch der mit dem Hammer, oder nicht? Der, der Roys schrecklichen Lehmkopf zu Klump geschlagen hat? Keiner außer dir könnte so rasend werden! Warum hast du mich gerettet? Warum bin ich noch am Leben?
    Natürlich kam keine Antwort. Von unten drang ein Klappern bis zu uns. Jemand kam die Leiter herauf.
    Das Monster stieß einen tiefen Seufzer aus: »Nein!«
    Und schon flüchtete es über das Gerüst. Seine Schritte polterten auf den losen Brettern. Staubwolken schwebten in die Dunkelheit der Kathedrale hinab.
    Da kam eindeutig jemand heraufgeklettert. Ich machte Anstalten, dem Monster zur zweiten Leiter nachzulaufen. Es drehte sich ein letztes Mal um. Seine Augen! Was? Was war mit seinem Blick?
    Er war verändert und doch der gleiche, erschreckt und schicksalergeben, leidend, einen Moment fixierte er mich, dann war sein Blick wieder fliehend. Seine Hände fuchtelten im Dunkeln herum. Ich dachte zuerst, er würde vielleicht schreien, mir etwas zurufen. Doch seinen Lippen entrang sich nur ein eigenartiges, ersticktes Keuchen. Dann hörte ich das Poltern seiner Füße, wie sie Schritt für Schritt aus dieser unwirklichen Welt hier oben flohen, hinab in die noch unwirklichere Welt, die dort unten lauerte.
    Ich stolperte hinterher. Meine Füße wirbelten Wolken von Staub und Gips auf, die wie der Sand in einem überdimensionalen Stundenglas durch die Ritzen sickerten, um sich weit unten, in der Nähe des Taufbeckens, wieder aufzu häufen. Die Bretter unter meinen Füßen knarrten und schwankten. Eine Windbö ließ sämtliche Leinenfetzen der Dekoration wie einen Schwärm Flügel um mich flattern, und dann war ich auf der Leiter und hastete nach unten, bei jedem Schritt einen Alarmschrei oder einen Fluch auf den Lippen. Gott im Himmel, dachte ich, ich und er, dieses Ding, zusammen auf einer Leiter, auf der Flucht. Vor was bloß?
    Ich blickte nach oben und sah, daß die dämonischen Wasserspeier aus meinem Blickfeld geraten waren. Ich war allein, allein mit meinen Gedanken. Was tun, wenn er dort unten auf mich wartet?
    Ich erstarrte. Ein Blick nach unten.
    Wenn ich falle, dachte ich, dauert es ein Jahr, bis ich unten aufschlage. Ich kannte nur einen Schutzpatron. Sein Name kam mir über die Lippen: Crumley!
    Festhalten, sagte Crumley aus weiter Entfernung. Atme erst einmal tief durch, sechs Atemzüge.
    Ich schnappte nach Luft, doch sie weigerte sich, meinen Mund wieder zu verlassen. Dem Ersticken nahe schaute ich hinaus auf die Lichter von Los Angeles, die in einer Fläche von sechshundert Quadratkilometern vor mir ausgebreitet funkelten, Straßenlaternen und Autoscheinwerfer, dachte an die vielen verschiedenartigen und wunderschönen Menschen dort unten, und keiner von ihnen war hier, um mir herunterzuhelfen. Diese Lichter! Straßenzug um Straßenzug – diese Lichter!
    Weit draußen am Rande der Welt glaubte

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