Friedhofskind (German Edition)
vorgestellt.
Seit sie hier war, hätte sie ein ganzes Heft mit Tipps für das Anbauen von Zucchini, Tomaten und Bohnen füllen können, aber über die Fenster hatte ihr niemand etwas sagen können – niemand bis auf Lenz Fuhrmann.
Siri biss in die Schokolade und drehte den Schlüssel um. Ja, sie würde ein Stück fahren, am Strand entlang wandern, in einem der Seebäder einen Kaffee trinken, zwischen Menschen. Selbst der geblümte Regenmantel sah aus, als ob er Gesellschaft brauchte.
Der alte Motor röhrte, doch ehe Siri den Gang einlegen konnte, nahm sie im Außenspiegel eine Bewegung wahr.
Sie drehte sich um und sah hinter sich ein Kind über die Straße hüpfen. Ein Kind in einem blauen Kleid. Sie würgte den Motor wieder ab und sprang aus dem Wagen. Das Mädchen war fort. Dort, wo es verschwunden war, führte ein schmaler Pfad zwischen zwei sorgfältig umzäunten Gärten hindurch.
»Warte!«, rief Siri und hechtete zwischen die Zäune. »Warte doch!«
Das Mädchen wartete nicht. Siri hörte ein helles Kinderlachen am Ende der Gasse und rannte.
Hinter den Gärten lag ein graubraunes Meer aus hüfthohen Stauden und Gräsern: Brachland. Mitten darin blitzte etwas Blaues. Siri folgte dem Blau, kämpfte sich zwischen großköpfigen trockenen Disteln hindurch, scheuchte winzige Singvögel auf – rutschte aus und fiel. Als sie sich aufsetzte, war das Blau nirgends mehr zu sehen. Sie fluchte, ließ sich zurückfallen und versuchte, zu Atem zu kommen.
Über ihr schwebte der hohe Himmel wie ein riesiger Drachen, den jemand hatte steigen lassen, um den ersten Frühlingswind zu testen.
»Wo bist du?«, fragte Siri laut. »Bist du hier? Du hast gewonnen, du kannst rauskommen. Vielleicht kannst du mir erklären, was hier los ist. Als ich so alt war wie du … ich hatte auch so ein Kleid. Blaue Seide. Ein Kleid zum Herumgezeigtwerden. Ich habe das Kleid gehasst. Komm doch zurück. Wir könnten uns unterhalten.«
Der Himmel schickte weiße Wolken über das Blau. Die trockenen Distelköpfe wippten lautlos im Wind. Niemand antwortete Siri.
Das Mädchen war fort.
Siri dachte an den blauen Wirbel auf der Friedhofsmauer. Sie dachte an den Schatten, den sie im Apfelbaum gesehen hatte, zusammen mit Lenz Fuhrmann. War sie seine Tochter?
Warum tat er so, als gäbe es sie nicht? Warum wollte er nicht, dass sie mit ihr sprach?
Manchmal sitzt es da und starrt stundenlang ins Leere , hatten die Frauen gesagt. Immer schon, schon mit drei oder vier …
Wenn Siri die Augen schloss, konnte sie ihn sehen: den kleinen Jungen, der ganz allein zwischen den Grabsteinen hockte, den Blick auf das Kirchenfenster gerichtet, auf dem Maria ihr schutzloses Neugeborenes durch die gläserne Dunkelheit trug. Friedhofskind.
Sie öffnete die Augen. Nein, er war nicht länger ein kleiner Junge, er war ein Mann mit einem groben Gesicht und groben Händen, breitschultrig, zwei Köpfe größer als sie. Und er versuchte, ihr Angst zu machen.
»Lenz Fuhrmann«, wiederholte Siri leise. »Was stimmt nicht mit dir?«
Sie stieg nicht noch einmal in den Golf.
Sie breitete ihre Zeichenblätter auf der hartwigschen Auslegeware aus, trotz Mangel an Licht, und begann, Maria und das Kind zu zeichnen. Maria und das Kind und die Sternenschauer, die auf sie niederfielen wie Schnee.
Wie Apfelblüten.
Wie die Gischt des Meeres in einer stürmischen Nacht.
4
Der Mai schritt fort, die Maiglöckchen neben dem steinernen Schneehuhn bildeten grüne Stängel und winzigrunde weiße Knospen, und Aljoschas Kaninchen vermehrten sich explosiv.
Winfried saß vor dem Fernseher, sah mit dem gesunden Auge durch den Bildschirm hindurch und knurrte ab und zu, dass der Frühling ihm gestohlen bleiben konnte. Annelie pflanzte neue Blumenzwiebeln. Die drei Fischerboote holten volle Netze ein.
Iris fand eine alte Wäscheleine und benutzte sie als Springseil. Sie übte zwischen den Gräbern, während Lenz das Moos aus den Ritzen der Steinplatten kratzte. Und alles wäre gewesen wie immer, dachte Lenz. Ein ganz gewöhnlicher Frühling.
Wäre nicht die Fensterfrau jeden Tag auf dem Friedhof erschienen, die Hände in den Taschen des geblümten Mantels, in Gedanken versunken. Frau Hartwig erzählte, sie würde jetzt Schablonen für das erste Fenster fertigstellen. Auf den Schablonen sei nichts zu erkennen. Lauter abstrakte Formen. Aber die Schokolade unter Frau Pechtens Matratze, sagte sie, die käme aus Afrika und sähe wertvoll aus und pechschwarz. Was andere Leute
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