Friedhofskind (German Edition)
unaufhörlich und sehr begeistert mit beiden Ärmchen winkte. Ihr sorgfältig geschnittener dunkler Pagenkopf wippte mit jedem Winken des Babys leise auf und ab, und auf ihren weichen Gesichtszügen spiegelte sich der Sommer. Sie war an diesem Morgen sehr jung.
Der Direktor stand hinter den beiden und machte ein Spätseptembergesicht, als wäre er selbst schon in der Echtzeit angekommen, dem verspäteten Dorf zwei Monate voraus, ein Herbstgesicht, leise besorgt. Er wirkte an diesem Morgen sehr alt.
Lenz sah die beiden vom Boot aus, sah sie dort oben auf dem Steg stehen und spürte Siris Anwesenheit neben sich. Aber das Boot war nicht das Boot des Direktors. Er ahnte, was für ein Boot es war. Das alte Holz schien unter ihm zu vibrieren, schien vollgesogen mit einer seltsamen Anspannung. Mit Erinnerungen.
»Das Boot liegt schon viel zu lange bei uns im Schuppen«, sagte Lena. »Ich dachte immer, dass man es mal benutzen sollte. Wir haben das andere. Die Jolle. Zum Segeln. Ich weiß noch, wie mein Mann und ich damals damit draußen waren … das war schön … auf die sportliche Art schön …« Sie lachte. »Aber manchmal denke ich, das Ruderboot ist romantischer. Und als ich gestern im Schuppen war und es sah, da dachte ich, dass es genau das Richtige wäre für Siri und … Sie.«
Sie schien unsicher, ob sie ihn duzen sollte oder nicht.
»Schade, dass Sie sich gestern Abend nicht … nicht wohlgefühlt haben«, fügte sie hinzu und bog ihre sanften Lippen zu einem kleinen Lächeln. »Ich hätte Sie gerne kennengelernt.«
»Da gibt es nicht viel kennenzulernen«, erwiderte Lenz und legte die Ruder zurecht. »Ich bin Totengräber. Das wissen Sie. Kein sehr interessanter Lebenslauf.«
Der Direktor kniete sich auf den Steg und löste die Leine. »Das Wetter soll ruhig bleiben«, sagte er. »Trotzdem … passen Sie auf sich auf. Beide.«
»Das werden sie tun«, sagte Lena mit einem breiteren Lächeln. »Gegenseitig.«
Auf ihrem Gesicht strahlte die Romantik eines Bootsausfluges, den nicht sie selbst machte. Vielleicht war es noch romantischer, jemand anderen auf einen romantischen Ausflug zu schicken, Lena war die wohlmeinende, allmächtige Regisseurin einer Geschichte, die sie selbst nicht erleben konnte. Die Kupplerin, Cupido, Amor, der schützend seine Hand über sie hielt. Er verbiss sich das Grinsen.
»Wir werden uns bemühen, nicht in einen Sturm zu geraten«, sagte Siri, und der Himmel war blau und klar, und dann ruderten sie los. Lenz ruderte. Am Ufer wurden Lena und der Direktor und das noch immer winkende Baby kleiner und unbedeutender. Das Letzte, was er von ihnen sah, war, wie der Direktor einen Arm um Lena legte.
»Ihr Mann ist nie hier«, sagte Siri.
Lenz nickte. »Sie scheint aber nicht sehr allein zu sein. Sie war so … glücklich.«
»Ja«, sagte Siri. »Für den Moment. Ich frage mich, was daraus wird. Du hättest sie sehen sollen, gestern Abend … sie sind sehr höflich miteinander. Man erwartet beinahe, dass sie sich siezen. Aber natürlich ist da mehr. Das uns nichts angeht.«
»Nein«, sagte Lenz, »das uns nichts angeht.«
Weiter draußen hingen die Boote der beiden Fischer auf dem Wasser, und Lenz ahnte stille Blicke von dort. Er zog die Ruder erst ein, als es keine Geräusche mehr gab vom Land, als sie nicht einmal mehr die Vögel hörten. Das Meer war still, die Wellen schwappten in langen, langsamen Bögen unter dem Boot in Richtung Ufer.
»So«, sagte er. »Warum sind wir hier? Warum in diesem Boot?«
Siri zuckte die Schultern unter dem geblümten Mantel. »Entzauberungen.«
Eine Weile sah er sie still an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das gut ist. Lag das Boot die ganze Zeit über im Schuppen?«
Sie nickte. »Der Direktor hat es geborgen. Aber es war wirklich Lenas Idee, dass wir damit rausfahren sollen. Lena weiß nicht, was das für ein Boot ist. Der Direktor hat kurz mit mir gesprochen, als sie mit dem Baby draußen war. Er hat das Boot aus dem Wasser gefischt und in seinen Schuppen gebracht, damals, und aus irgendeinem Grund hat nie jemand danach gefragt. Natürlich nicht, Iris’ Familie war in Angola, was sollten sie mit einem Ruderboot?«
»Hoffst du, dass ich mich erinnere, wenn ich in diesem Boot sitze?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber eigentlich … Lenz … wir könnten einen ganzen Tag lang hier draußen auf dem Wasser sein und überhaupt nicht an die Vergangenheit denken. Ich habe etwas zu essen und zu trinken
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