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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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eingepackt … wir könnten so tun, als wäre es wirklich ein ganz gewöhnlicher Ausflug. Irgendwo anlegen. Was weiß ich? Erst abends wiederkommen.«
    »Wir spielen«, sagte er und lächelte auf einmal. »Schön, dann spielen wir. Wir spielen, dass wir auswandern, irgendwohin, zusammen.«
    Und sie spielten.
    Und der Tag war blau.
    Und alles war gut.
    Sie waren weit weg vom Dorf und dennoch beinahe dort, das Wasser war eine andere Art Wirklichkeit, in der man allein sein konnte, ohne fortgehen zu müssen. Sie waren auf einer Insel, die nur ihnen allein gehörte, und waren doch nicht miteinander allein, nicht auf die Art, wie man in einem dunklen Raum allein ist, nicht so eng und aufeinander angewiesen, sich nicht ausgeliefert. Das Wasser war warm, das Wasser stellte keine Gefahr da, es war ein Weg zurück an Land, den man im Notfall nutzen konnte.
    Sie sprachen nicht von Belanglosem wie Siri mit Lena und dem Direktor. Sie sprachen von Träumen. Sie sprachen wenig. Sie lagen auf dem Boden des Ruderbootes und küssten sich und holten sich blaue Flecken an den Ruderbänken, zwei Teenager, die keinen Ort haben als die Rückbank des Autos oder eben ein Ruderboot … sie sprangen ins Wasser und schwammen neben dem Boot her und lachten, weil sie es beinahe nicht schafften, wieder hineinzukommen, sie trockneten sich mit ihren Kleidern ab und spürten die Sonne auf der Haut und schliefen miteinander, was zu noch mehr blauen Flecken führte, und Lenz fragte sich, wie dies jemals hatte nicht funktionieren können, es war so leicht, kinderleicht. Und er spürte die ganze Erstaunlichkeit des Tages und des Sommers in sich.
    Sie legten nicht in der geheimen Bucht an, obwohl er erst geglaubt hatte, sie müssten es tun. Aber Siri schien vergessen zu haben, dass sie auf der Suche nach seiner Erinnerung war. Sie machten das Boot für eine Weile an den Pfählen eines Stellnetzes fest, das war alles.
    Irgendwann begann die Sonne, auf den Horizont zuzusinken, rot und groß.
    »Stell dir vor«, sagte Siri, »wir würden einfach immer weiter rudern, bis zur anderen Seite dieses Meeres, bis nach … ich weiß nicht … was kommt denn da?«
    »Schweden«, sagte Lenz.
    »Bis nach Schweden und dort aussteigen und jemand anderer sein.«
    »Sie haben das gemacht«, sagte Lenz. »Viele. Damals. Vor ’89. Nicht gerade von unserem Hafen aus, aber in der Nähe. Es ist nicht immer gut ausgegangen.«
    »Komisch«, sagte Siri. »Ich denke oft, dass es eigentlich egal ist, ob man vor oder nach ’89 lebt. Die Menschen bleiben die gleichen. Das Dorf hat sich sicher nicht geändert, und die Dunkelheit, die die Leute sich privat irgendwo anhäufen, genauso wenig. Es war im Mittelalter so und wird in tausend Jahren noch so sein. Die Menschen, ihre Hackordnungen, ihr Misstrauen … die Außen- und die Innenseiter … alles das bleibt.«
    Sie stand auf und schüttelte den geblümten Regenmantel aus, der auf dem Boden des Ruderbootes gelegen hatte. Auf einmal schien sie zu frieren, sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich den Mantel um die Schultern legen – aber er entglitt ihr, das glatte Material rutschte durch ihre Finger und landete im Wasser. Einen Moment lang stand sie ganz steif da, reglos, und starrte dem Mantel hinterher.
    Er breitete sich als große, hell-bunte Qualle unter der Oberfläche aus wie schon einmal, damals, als Lenz sie durchs Wasser geschleppt hatte mit ihrer Wunde am Bein. Der Mantel schien tatsächlich zu leben; schien die Schwimmbewegungen eines Meerestieres nachzuahmen. Aber irgendetwas Schweres musste in einer der Taschen stecken, denn jetzt begann er zu sinken.
    Lenz merkte, dass er ebenfalls aufgestanden war. Sie standen nebeneinander und sahen Siris Mantel tiefer und tiefer ins Wasser hinabgleiten, unwiederbringlich verloren – ihre Schutzhülle, ihr Versteck, ihr Sicherheitsnetz, in dem sie ihren Körper so lange vor ihm und der Welt versteckt hatte.
    Und dann, ganz plötzlich, erwachte Siri aus ihrer Versteinerung.
    »Nein!«, rief sie und sprang, in Hosen und T-Shirt, über die Reling, schwamm, hetzte, tauchte dem Mantel nach: der geblümten Qualle. Er sah sie unter den Wellen verschwinden und krallte seine Hände in die Handflächen. Ach was, sagte er sich, sie konnte schwimmen, sie waren zusammen geschwommen, gerade erst; sie würde schon wieder auftauchen, er machte sich unnötig Sorgen. Aber das Meer dort unten, wo die irgendwie künstlich rote Sonne nichts mehr beschien, war mit einem Mal dunkel, trüb,

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