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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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undurchsichtig, und er sah Siri nicht mehr, sah den Mantel nicht mehr, sah nur noch die Wellen. Wind war aufgekommen, der winzige Schaumkronen malte.
    Lenz begann er, die Sekunden zu zählen. Wenn sie bei dreißig nicht wieder da ist, springe ich ihr nach … achtundzwanzig … neunundzwanzig … das Wasser war jetzt eiskalt. Er tauchte in die Undurchsichtigkeit hinein, und dann geschah es. Er tauchte wieder auf, nur Sekunden später, ohne Siri gefunden zu haben, und es war Nacht. Schwärzeste dickste Nacht. Und über das Wasser fegte ein Sturm. Der Himmel über ihm war bedeckt mit zerfetzten Mondwolken, die Sterne hatten ihr Licht zurückgezogen, und das Ruderboot neben Lenz schaukelte umgekippt auf den Wellen.
    Er tauchte wieder, tauchte diesmal unter das Boot und streckte die Hand aus, fand etwas, einen Arm, einen Körper, zog – doch der Körper löste sich nicht, etwas hielt ihn dort unter dem Boot fest. Der Sturm und die Nacht vermengten sich mit seinem Blut und sausten in seinen Ohren, es war vielleicht das dunkle Meer selbst, dass anstelle von Blut durch seine Adern floss, es war eiskalt. Dies war kein Sommermeer, auch kein Septembermeer, dies war ein unerbittliches Winterherbstmeer, zu kalt, um darin zu schwimmen. Der Arm, an dem er zog, war ein Kinderarm.
    Er tauchte wieder auf, hörte sich keuchen, hörte sich schreien.
    Iris!
    Iris!
    Er schluckte Wasser, hustete, tauchte wieder.
    Jemand zerrte an ihm, riss ihn zurück, er kämpfte gegen diesen Jemand, er musste Iris unter dem Boot hervorholen, er wusste, dass alles irgendwie schiefgelaufen war, dass er etwas getan hatte, was er nicht hätte tun dürfen, dass er schuld an allem war – wer kämpfte da mit ihm? Er wand sich, versuchte, sich aus dem Griff zu befreien – und spürte einen jähen, brennenden Schmerz im Gesicht, als hätte ihn jemand geohrfeigt.
    Und dann war alles vorbei.
    Er blinzelte. Er befand sich neben dem Boot im Wasser, das Boot schwamm aufrecht, die rote Sonne versank eben am Horizont in der See. Vor ihm, im Boot, saß Siri, sehr nass, sehr weiß im Gesicht, und hatte offenbar bis eben versucht, ihn über die Reling zu ziehen.
    Jetzt sah sie in seine Augen, forschend und zugleich verwirrt.
    »Lenz? Lenz, kannst du mich hören?«
    Er nickte lahm. Dann kletterte er mühsam ins Boot.
    Siri wrang den Mantel aus, was bei einem Regenmantel wenig sinnvoll schien, und sagte lange Zeit nichts. Das Boot dümpelte auf den Wellen, da war kein Sturm, keine Nacht, kein Kind. Lenz merkte, dass er zitterte.
    »Was ist passiert?«, fragte er schließlich. »Eben?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Du hast mit mir gekämpft. Zuerst dachte ich, es ist eine Art Spaß, du hast mich unter Wasser gedrückt … aber dann hatte ich Angst. Du warst gar nicht wirklich da. Du warst ein anderer. Ich bin ins Boot geklettert und wollte dich rausziehen, aber du hast dich gesträubt. Weißt du das denn alles nicht mehr? Es ist nur ein paar Minuten her.«
    Er wickelte das graue Halstuch ab und presste das Wasser heraus.
    »Du wolltest, dass ich mich erinnere«, sagte er schließlich leise. »Ich habe mich erinnert. Ich hatte Angst, weil du nicht wieder aufgetaucht bist, mit dem Mantel … Gott, warum ist der verdammte Mantel so wichtig?«
    Sie zuckte die Schultern. »Ich mag ihn. Aber ich bin wieder aufgetaucht. Es hat nur gedauert. Und dann warst du da und hast dich aufgeführt wie ein Verrückter.«
    »Ich war … dort. Nein. Ich war … damals. In der Nacht. Iris …« Er brach ab. Wie sollte er erklären, was er selbst nicht begriffen hatte? »Ich war in dieser Nacht im Wasser«, sagte er leise. »Es ist nicht wahr, was Winfried gesagt hat. Dass ich die ganze Nacht in meinem Bett geschlafen habe. Ich war da. Das Boot war umgekippt, und Iris war darunter. Aber ich konnte sie nicht herausziehen. Ich weiß nicht, warum. Irgendetwas war furchtbar schiefgelaufen. Ich weiß nur, was ich gefühlt habe. Ich war schuld. Ich. War. Schuld.«
    Er sah sie an, und das Wasser in seinem Gesicht, das seinen Blick verschleierte, war nicht nur Meerwasser. Er heulte. Er konnte nichts dagegen tun, er heulte hemmungslos wie ein Kind. Er war ein Kind.
    »Du weißt es wirklich nicht?«, fragte er, Tränen schluckend. »Was geschehen ist? Du erinnerst dich tatsächlich auch nicht?«
    »Ich war nicht dabei«, sagte Siri und schlang ihre Arme um ihn. »Lenz, ich war nicht dabei. Ich bin sieben Jahre jünger als Iris.«
    Er sah auf, er konnte die Tränen noch immer

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