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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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    Und sie höre Frau Pechten ab und zu telefonieren, mit einem Mann. Vielleicht käme er ja her, das gäbe natürlich einen Aufpreis für die Ferienwohnung.
    »Die Hartwig«, sagte Iris im Apfelbaum, »wäre eine gute Spionin geworden.«
    Lenz sah von dem Unkraut auf, das er aus den Beeten zog. Iris’ schwarze Schuhe glänzten trotz der Erde daran. Sie glänzten, merkwürdig genug, immer. Sie sprang vom Baum, und die blonden Locken flogen um ihren Kopf wie Goldgewebe.
    »Engelshaar«, sagte er lächelnd und streckte die Finger danach aus.
    Da schüttelte Iris sich noch einmal, voller Abscheu.
    »Brrr«, sagte sie. »Kannst du es nicht für mich abschneiden?«
    »Nein«, sagte Lenz, »und das weißt du. Wir haben es versucht.«
    Sie nickte, seufzend. Dann rannte sie davon, zum hinteren Friedhofstor. »Komm!«, rief sie über die Schulter. »Lass uns runtergehen zum Wasser und Schiffchen schwimmen lassen!«
    Und er ließ den Unkrauteimer stehen und folgte ihr. Er spürte die Blicke von Frau Hartwig und den anderen Frauen in seinem Rücken.
    Das Friedhofskind geht spielen, dachte er, ja, starrt ihm nur nach.
    Er wanderte alleine den Weg zwischen den Hügelfeldern entlang, wo die Kaninchen mit aufgestellten Ohren den Wind musizieren hörten. Iris hatte es vorgezogen, wieder für eine Weile zu verschwinden; beim Steg unten würde er sie wiedertreffen.
    Aber als er beim Steg ankam, saß dort die Fensterfrau.
    Sie hockte mit angezogenen Beinen da, und auf ihrem Rücken wuchsen die bunten Regenmantelblumen, die er inzwischen so gut kannte. Wie real diese Blumen waren auf ihrer Plastikoberfläche, wie viel realer als alles andere! Im kurzen braunen Haar der Fensterfrau nistete das Licht wie ein unordentlicher – aber sehr realer – Vogel. Sie war nicht schön. Sie war zu mager. Sie war ein greifbarer Anker aus Wirklichkeit in allem Vagen, Dunklen, Nebulösen.
    Lenz war sich nicht sicher, ob er einen Anker wollte.
    Sie sprach mit Aljoscha. Er stand in seinem Boot und ließ meterweise Netz durch seine Hände laufen, um die kleinen silbernen Leben herauszufischen und in einen schwarzen Eimer zu werfen, wo sie, sich windend, elend verenden würden: zu winzig, um extra getötet zu werden. An seinem linken Handgelenk glänzte eine Kette aus ebenso silbernen Gliedern, zweimal herumgewickelt. Ein Erbstück. Früher, pflegte Aljoscha zu sagen, hatten die Segler goldene Ohrringe getragen, damit man davon ihr Begräbnis bezahlen konnte, wenn man sie fand. Er hatte die silberne Kette am Arm.
    Er hatte sie schon gehabt, als Lenz ein Kind gewesen war, und schon damals hatte sie ihn an die hilflosen Fische in Aljoschas Eimer erinnert. Nur die größeren schlug er mit dem Kopf kurz gegen den Rand des Steges.
    Lenz duckte sich ins Schilf, seitlich des Stegs, wo sie ihn nicht sah und er sie nicht sah. Aber er hörte.
    »Kovalski«, hörte er Aljoscha sagen. »Aljoscha Kovalski. So heiß ich.«
    »Dann sind es Ihre Kaninchen, die überall herumlaufen?«, fragte die Fensterfrau. Siri.
    »Meine Kaninchen.« Aljoscha nickte. »Fisch und Kaninchen, man hat sein Auskommen. Und Sie machen in Glasfenstern, ja?«
    »Ja«, sagte Siri. »Sie sind allerdings nicht ganz so schwer zu fangen.«
    »Wie?«
    »Wie Fische und Kaninchen.«
    »Ah«, sagte Aljoscha verständnislos und brachte weiter Fische um, Lenz hörte das Knacken eines brechenden Rückgrats. Glasfenster fangen … er verbiss sich ein Grinsen.
    »Erinnern Sie sich, was auf den alten Fenstern zu sehen war?«, fragte Siri. »Ehe sie … aus irgendeinem Grund … kaputtgingen?«
    »Auf den Kirchenfenstern.« Knack, Knack. »Ich weiß nicht. Sie waren bunt. Ich geh nich in die Kirche.«
    »Auf dem Friedhof waren Sie doch aber mal?«
    »Sicher, die Mutter liegt ja da«, sagte Aljoscha. Knack. »Da geh ich ab und zu hin, Blumen vorbeibringen, für sie und den Alten. Wie die Fenster gesprungen sind, da haben die noch gelebt … da war ich noch jung. Hatte gerade angefangen mit den Kaninchen, das weiß ich noch wie heute, da war die Kleine hier, die hat sie so gerne gestreichelt … einmal hat sie gesehen, wie ich eins geschlachtet hab, stand ganz still am Zaun und hat zugeguckt mit ihren großen blauen Augen, und ich hab gedacht, jetzt heult sie, hat sie aber nich … und einmal hat sie eins von meinen Karnickeln gefunden, das hatte Junge geworfen, im hohen Gras grade unter so einem Kirchenfenster … warten Sie mal! Jetzt kommt’s mir … das eine Fenster … wie ich da mit der

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