Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
haben wir uns verpasst. Pech …
    Viel zu einfach. Sie musste es versuchen.
    Die Kirchentür klemmte, und für einen panischen Moment war Siri nicht sicher, ob jemand sie in der Nacht abgeschlossen hatte. Sie stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, leider keine beeindruckende Masse, und zwang das alte Holz durch ihren schieren Willen, nachzugeben. Es gab nach. Aber nicht mit einem Ruck, wie sie geglaubt hatte, sondern langsam, allmählich, als hielte jemand die Tür von außen zu, als kämpfte jemand gegen sie. Aber da war niemand. Und endlich begriff sie: Es war der Wind, der die Tür zudrückte. Es gelang ihr, sie weit genug aufzustemmen, um hindurchzuschlüpfen, die Tür schloss sich mit einem Knall hinter Siri –
    Sie stand im Sturm.
    Im Chaos.
    Das Grün des Friedhofs hatte sich in rauschende, schwankende Schlieren verwandelt, das Ächzen der Bäume erfüllte die Luft, und Siri duckte sich unwillkürlich unter den Windböen. Sie zog ihren Mantel enger um sich. Der Sturm war kalt, eiskalt, vereinzelte Regentropfen schlugen ihr ins Gesicht wie kleine Steine. Sie hatte noch nie einen solchen Sturm erlebt, es war, als schwankte selbst die Erde.
    Nichts stand still, alles war Bewegung. Sie kämpfte sich geduckt zum Friedhofstor, konnte sich kaum auf den Füßen halten, der Wind drohte sie aufzuheben und mitzunehmen wie ein Blatt.
    Ich bin nichts, dachte Siri. Ich bin belanglos. Ich bin ein kleines Ding auf der Erdoberfläche, das die großen Dinge nicht kümmert, all dies – das Dorf, die Morde, die Schatten hinter den Häusern –, es kümmert die Großen nicht. Es ist ein winziges, unwichtiges Detail. Ein Punkt auf einer Karte. Beinahe lachte sie.
    Sie warf die Arme hoch und drehte sich im Sturm, ließ den geblümten Mantel fliegen, verlor das Gleichgewicht, zog sich am Friedhofstor wieder auf die Beine und sah den grau zerrissenen Himmel über sich – alles kam immer nur darauf an, von wo aus man es betrachtete, und von dort oben betrachtet war nichts hier unten wichtig.
    Aber wenn nichts wichtig war, war sie frei. Wenn nichts zählte, konnte jeder neu anfangen.
    Wenn nichts von Belang war, gab es das Dorf vielleicht nicht einmal. Es war unwichtig, ob es das Dorf gab. Es war unwichtig, ob es Iris gab, ob sie wirklich in einem blauen Kleid durch die Felder lief, es war unwichtig, ob und wie sie gestorben war. Von dort oben aus dem zerrissenen Grau betrachtet machten Einbildung und Wirklichkeit keinen Unterschied.
    Sie rannte jetzt, oder versuchte zu rennen, sie fiel und rannte weiter, sie taumelte den Sandweg entlang wie ein großer grüner Schmetterling, ein betrunkener oder verletzter Schmetterling, auch das machte aus der Entfernung betrachtet keinen Unterschied. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde, die Datschen und das Meer zu erreichen.
    Alles fühlte sich sehr nach Ende an.
    Reet flog durch die Luft, der Sturm griff mit großen Händen in die dunklen Dächer und löste Halme und Moos, er kümmerte sich nicht um den Draht, der die Dächer zusammenhielt, er jagte seine Krallen in Vorgartenhecken und Gemüsebeete, in Obstbäume und Zäune und nahm mit, was lose war.
    Siri hörte Rufe im Sturm, sie sah den Umbrich hinter seinem Zaun auf dem Boden knien und an der Leine seines Hundes ziehen, der sich in einer Ecke unter den Büschen verkrochen hatte und nicht mehr herauskommen wollte. Sie sah die Katzenfrau in weiß wehendem Nachthemd außen an ihrem Haus Fenster verbarrikadieren, Läden schließen, die sich nicht schließen ließen, Kaminski war bei ihr und versuchte zu helfen, und selbst Kaminski wirkte im Sturm abstrakt, wie eine Figur aus einem Film. Das Riesentrampolin war umgefallen und lag im Garten wie ein gestrandetes Urtier. Blätter und abgerissene Zweige füllten die brodelnde Luft, Äpfel, die niemals geerntet werden würden, Büschel von Blumen, die auf Gräbern gelegen hatten, Hände voll Sand.
    Siri erreichte Frau Hartwigs Garten, der nicht mehr zu erkennen war – ein Gewirr von zerstörtem, umgestürztem, gesplittertem Vorgartennadelgehölz. Sie musste einen großen Ast zur Seite schieben, um die Tür zu öffnen. Ein Windstoß fuhr in den Flur, fegte in die Werkstatt, deren Tür einen Spaltbreit offen stand, warf eine der noch unbenutzten blauen Glasplatten um und ließ sie splitternd auf dem Boden zerbrechen, er wirbelte Skizzenpapier, Pinsel, Stahlfedern, Spachtel, Handschuhe und Bücher durcheinander – Siri schloss die Tür.
    Und stand in der Stille.
    Sie hörte

Weitere Kostenlose Bücher