Friedhofskind (German Edition)
rufen jetzt nicht nachträglich noch die Polizei«, sagte Werter.
Siri schüttelte den Kopf. »Ich muss mit meinem Vater sprechen.«
»Ja«, sagte Werter. »Ja, das ist eine gute Idee. Er hat sieben Mal hier angerufen, seit er hier war, um Sie zu finden. Dies scheint das einzige Telefon des Dorfes zu sein, das im Telefonbuch steht.«
»Er hat angerufen? Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?«
Werter strich sich nachdenklich durch das silberweiße Haar. »Ich weiß nicht … ich nehme an, ich dachte, wenn Sie mit ihrem Vater reden wollen, tun Sie das schon von allein. Sie sind eine erwachsene Frau. Er hat eine Menge Theater hier veranstaltet, als er Sie zurückholen wollte. Ich … mag ihn nicht.«
»Da sind wir schon zwei«, murmelte Siri und merkte in dem Moment, in dem sie es sagte, dass das eine Lüge war.
Sie liebte ihren Vater. Natürlich und noch immer. Sie hasste ihn, und sie liebte ihn, beides gehörte unzertrennlich zusammen. Sie wollte immer noch, dass er sie ernst nahm – sie war nur hierhergekommen, damit er sie ernst nahm. Ihr Plan war gewesen, ihm zu beweisen, dass sie jemand war, den man ernst nehmen musste – und ihn danach nie wiederzusehen.
»Ich bin es«, sagte sie ins Telefon der Kfz-Werkstatt. »Siri.«
Am anderen Ende der Leitung atmete es schweigend.
»Siri«, wiederholte ihr Vater schließlich.
»Ja. Du warst hier.«
»Und du wolltest nicht mit mir reden. Hat sich das geändert? Bist du jetzt bereit zu reden?«
»Ja.«
»Dann sag mir, ob es stimmt, was sie im Dorf erzählen. Bist du mit diesem Mann zusammen?«
»Diesem Mann?«
»Du weißt, wen ich meine. Fuhrmann.«
»Ich bin gekommen, um Dinge herauszufinden, das habe ich dir gesagt. Es ist nicht einmal klar, dass er … etwas mit der Sache damals zu tun hatte. Wenn ich es weiß, komme ich zurück.«
»Bist du mit ihm zusammen?«
»Woher hast du überhaupt eine so moderne Ausdrucksweise?«, fragte Siri. »Was wäre denn, wenn? Wenn ich mit ihm … zusammen … wäre?«
»Mit dem Mörder deiner Schwester«, sagte ihr Vater leise. »Ja, dann … dann habe ich wohl keine Tochter mehr.«
Das Telefon triefte vor unnötigem Pathos, und Siri schüttelte sich.
»Jetzt mach einen Punkt«, sagte sie ungeduldig. »Du weißt nicht einmal, wie die Dinge zusammenhängen. Ich werde es dir erklären, im Winter, wenn ich wieder in der Stadt bin. Nur tu mir den Gefallen und versuch nicht noch einmal, mich zurückzuholen.«
»Ich habe keine Tochter mehr«, wiederholte ihr Vater, der offenbar nicht zugehört hatte. »Eine hat er umgebracht, und die andere wirft sich ihm an den Hals. Ich habe keine Tochter.«
Dann zerbrach die Verbindung mit einem kleinen Klicken wie blaues Glas.
Siri feuerte den Hörer auf die Gabel des alten Werkstatttelefons.
»Läuft alles nicht so, was?«, fragte Kaminski hinter ihr.
Sie sah ihn an, noch immer wütend. Er blickte zu ihr hinab, grinsend. Aber als sie ihn wortlos anstarrte, wurde er verlegen und kratzte sich am Hals wie ein Hund. Und plötzlich war es ihr unbegreiflich, wie sie jemals Angst vor ihm hatte haben können.
Er war so jung und so dumm.
»Es läuft prima«, sagte sie. »Die Fenster sind fast fertig. Da ist nur noch das letzte, das ich einbauen muss.«
»Schön«, sagte Kaminski und fischte eine Zigarette hinter seinem Ohr hervor. »Sehr schön.«
Dann trat er einen Schritt näher, und sie wich nicht einmal zurück. Die Augen, die in ihre sahen, waren von einem beinahe kitschig vergissmeinichtfarbenen Hellblau.
»Es dauert jetzt nicht mehr lange«, sagte Kaminski leise, »bis wir wissen, was hier im Dorf passiert. Wer Frau Henning und Aljoscha und vielleicht auch den alten Fuhrmann umgebracht hat. Ich werde es beweisen. Bald. Dann ist es wieder sicher auf den Straßen. Wenn es wieder sicher ist, können Sie von mir aus bleiben.«
»Ich dachte, Sie sind der Meinung, Sie wüssten sowieso, wer es ist?«, fragte Siri. »Und ich dachte, Sie wissen, mit wem ich hier gewissermaßen zusammenlebe?«
Der vergissmeinnichtblaue Blick sprang hektisch in ihrem Gesicht hin und her, forschend. »Sie werden’s noch begreifen«, flüsterte er. »Sie werden begreifen, dass ich recht habe. Ich sollte Ihnen eine Menge Dinge übel nehmen. Ich sollte sauer auf Sie sein, was? Richtig sauer. Aber ich kann es nicht. Nicht auf eine so hübsche Frau wie Sie.«
Siri lachte. »Da werden Sie aber nicht viele Leute finden, die Ihrer Meinung sind.«
Er zuckte die Schultern. »Mir egal«, sagte er.
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