Friedhofskind (German Edition)
»Dann sind die anderen eben blind. Kommen Sie zu mir, wenn Sie’s irgendwann begriffen haben.« Damit wandte er sich ab und sammelte irgendwelche Werkzeuge ein, um unter ein Auto zu kriechen.
»Junge«, flüsterte Siri, als sie ging und er sie nicht mehr hören konnte, »du bist zehn Jahre jünger als ich. Du bist ein zehn Jahre jüngeres rechtes Arschloch. Glaubst du wirklich, ich verfalle am Ende deinem unglaublichen Charme?«
An diesem Abend wurde der letzte Teil des letzten Fensters fertig. Jedes Fenster bestand aus acht Teilen, von denen je zwei übereinander angebracht wurden, und acht letzte, allerletzte fertige Teile standen ordentlich gestapelt an der Wand in Frau Hartwigs Kellerwohnung.
Siri stand lange allein auf dem Steg und sah aufs Meer hinaus, das jetzt am Abend still dalag. Jemand stellte sich neben sie, und sie erschrak. Aber es war nur Iris.
»Wir haben lange nicht mehr zusammen Schiffchen schwimmen lassen«, sagte sie. »Vier Tage, mindestens.«
»Ja«, sagte Siri.
»Seit dem Sturm nicht.«
»Nein«, sagte Siri.
»Ich finde das nicht gut, dass du ihm wehtust«, sagte Iris unvermittelt, ließ Siris Hand los und kickte einen winzigen Stein ins Wasser.
»Bitte?«
»Lenz. Du tust ihm weh. Ich dachte, du machst, dass er froh ist, aber es stimmt nicht. Du bist hergekommen, um ihm wehzutun. Bevor du gekommen bist, war alles … irgendwie geordnet. Du hast alles … zerwühlt, er war zwischendurch wirklich glücklich … aber seit dem Sturm ist er nicht mehr glücklich, weil du komisch zu ihm bist, und jetzt kann es nie wieder so werden wie vorher. Ich wollte dich erst nicht mögen, weißt du. Aber ich habe damit angefangen. Und jetzt bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher.«
Siri wollte etwas erwidern, versuchen, etwas zu erklären, aber Iris drehte sich um, sah offenbar jemanden und verschwand. Sie verschwand einfach so, als könnte sie sich jetzt, da alles zerwühlt und zu Ende war, ruhig auch benehmen wie ein Geist.
Es war jemand anderer, der an ihre Stelle trat, dort ganz vorne am Steg. Es war Lena.
Eine Weile sahen die beiden gemeinsam zum Horizont hinaus.
»Die Kleine schläft«, sagte Lena dann.
»Ah«, sagte Siri.
»Und ich weiß jetzt«, fuhr Lena fort, »warum er nicht ans Telefon geht. Der Direktor. Ich weiß jetzt alles. Du weißt es auch, nicht wahr?«
Siri drehte den Kopf zur Seite und sah Lena an. Ihr junges Gesicht war weiß wie der Herbsthimmel. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe.
»Ich weiß es seit heute früh. Ich war bei ihm.«
»Lena«, sagte Siri vorsichtig, »ich verstehe nicht …«
»Doch«, sagte Lena und nickte ein paarmal, beinahe, als könnte sie nicht wieder aufhören damit. »Doch, du verstehst. Sehr gut sogar. Er lag auf deinem Bett.«
»Aber –«
»Er lag auf deinem Bett und war tot.«
Siri atmete langsam aus, es war, als hätte sie vier Tage lang die Luft angehalten.
»Wo – ist er? Ich habe ihn nicht weggeschafft, verstehst du, Lena? Er war da, und dann war er weg. Ich wollte die Polizei rufen, Lena, aber plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht geträumt hatte … ich habe gehofft, ich hätte geträumt.«
»Was hat er da gemacht, bei dir in der Wohnung? Nicht, dass es mich etwas anginge …«
»Doch, das tut es«, erwiderte Siri. »Er hat dir gehört und nur dir. Der Direktor. Ich war gar nicht da, als er da war, ich bin spazieren gegangen. Wir haben uns verpasst. Er hat gesagt, er will vorbeikommen, um mir etwas zu geben. Um mit mir zu reden. Allein. Ich hätte warten sollen, warten, bis er kommt … sie wollten nicht ihn umbringen, Lena. Sie wollten mich umbringen.«
»Sie?«, fragte Lena und fuhr sich durch ihren dunklen Pagenkopf, der an diesem Tag verfilzt und struppig wirkte. »Wer sind sie ?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Siri. »Sie oder er oder wer auch immer. Aber was bedeutet Du-warst-bei-ihm, Lena?«
»Er liegt im Keller der Kfz-Werkstatt«, antwortete Lena und sah jetzt wieder starr geradeaus, aufs Meer hinaus. »Es ist kühl dort. Eiskalt. Kaminski hat mich hingeführt. Er hat gesagt, es wäre besser, wenn ich es wüsste.«
Siri öffnete den Mund, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Sie wollten keine Polizei im Dorf«, fuhr Lena fort, leiser jetzt. »Deshalb haben sie ihn in den Keller gebracht. Frau Hartwig hat Kaminski geholt. Es ist besser so, sagen sie. Sie nehmen die Sache selbst in die Hand. Jetzt tun sie es wirklich.«
»Sie?«, fragte Siri. »Wer sind sie ?«
Doch Lena
Weitere Kostenlose Bücher