Friedhofskind (German Edition)
starrte nur weiter aufs Meer hinaus.
»Lena«, sagte Siri. »Es tut mir …« Sie legte einen Arm um Lena, doch Lena war steif, versteinert, und Siri nahm den Arm wieder weg. »Das Baby … musst du nicht zurück zu deinem Baby?«
»Ja«, sagte Lena vage. »Ja. Wahrscheinlich. Ich … ich habe dir gesagt, dass ich in meinem Innersten romantisch veranlagt bin. Der Direktor …«
»Ich weiß«, sagte Siri, »ich weiß.«
»Und ich … ich wollte so gerne, dass alles gut wird«, flüsterte Lena. »Für uns und für euch. Ich wollte deinen Lenz mögen. Ich wollte, dass der Direktor ihn mochte. Jetzt –«
Sie brach ab. »Ich bin nicht gut darin, zu hassen«, wisperte sie schließlich, kaum hörbar. »Aber ich lerne es vielleicht.«
Damit drehte sie sich um und ging über den Steg zurück, ließ Siri allein mit der Herbstdämmerung. Zwei Enten flogen auf und flohen über das braun werdende Schilf. Ein Graureiher erhob sich in der Ferne und teilte den violettgrauen Himmel mit seinen schweren Flügelschlägen, ein Scherenschnittreiher vor dem allerletzten Licht.
Die Natur, dachte Siri, kannte kein Mitleid. Egal, was geschah, die Natur war gnadenlos schön. Sie pflückte einen Schilfhalm und zerbrach ihn, zerquetschte ihn zwischen ihren Fingern.
Dann kehrte sie zurück zu ihrem merkwürdigen Schlafplatz in der alten Datsche.
Lenz schnitt Brot in der Küche. »Übrigens brauchen wir eine neue Gasflasche«, sagte er. »Ich will schon seit Tagen daran denken und vergesse es immer.«
Sie nickte und schlang ihre Arme um ihn, trotz aller Zweifel. Plötzlich fror sie so sehr, dass sie glaubte, in dieser Küche erfrieren zu müssen, hier und jetzt, wenn sie sich nicht dicht an ihn presste und seine Körperwärme spürte. Vielleicht war dies die letzte Nacht.
»Morgen«, sagte sie, »baue ich das sechste Fenster ein. Die Kreuzigung.«
Sie hatte vergessen, die Ankündigungen im Schaukasten zu lesen.
Am Tag des letzten Fensters gab es in der Kirche einen Gottesdienst. Siri hatte nicht einmal gemerkt, dass es ein Sonntag war. Seit dem Sturm war der Schaukasten nicht mehr da, aber sie hätte die Ankündigung früher lesen können. Sie erfuhr es am Morgen von Frau Hartwig, die sie fragte, ob sie käme. Frau Hartwig sprach auf seltsame Weise mit ihr, es war eine Mischung aus Vorwurf und Wohlwollen, aus Neugier und Misstrauen, aus Ach-mein-armes-Mädchen und Diese-Person-aus-der-Stadt.
»Ach, mein armes Mädchen«, sagte sie an diesem Morgen. »Zeit, dass es ein Ende hat mit den Fenstern, was? So viel Arbeit … da wird sich der Herr Pfarrer aber freuen, dass die Fenster alle drin sind, wenn er kommt.«
Siri beeilte sich, damit sich der Herr Pfarrer freuen konnte. Sie mochte das sechste Fenster nicht, vielleicht befestigte sie seine Scheiben ein wenig nachlässiger als die der anderen Fenster, vielleicht war das der Grund dafür, was später geschah. Oder vielleicht lag es daran, dass ihre Hände an diesem Tag weniger zuverlässig arbeiteten als an anderen, ihre Bewegungen waren fahriger, nervöser.
Das Dorf tickt, dachte sie, es tickt und tickt und tickt … sie sah das Bild nicht einmal an, während sie die Scheiben in ihren Rahmen verankerte. Zuerst hatte die Idee mit dem Dorf, das sich selbst kreuzigte, ihr gefallen, aber inzwischen schien sie ihr eine notwendige Abscheulichkeit zu sein. Nicht einmal die Farben waren schön.
Und sie hatte das seltsame Gefühl, dass in dem Moment, in dem alle Fenster fertig waren, die lang gesuchte, ersehnte, gefürchtete Wahrheit aus einer geheimen Spalte kriechen und ans Licht kommen würde.
In dem Moment, in dem alle Fenster fertig waren, geschah nur eine einzige Sache: Lenz, der unten stand, klatschte langsam mit seinen großen, groben Händen Applaus. Und dann, Minuten später, hielt der Wagen des Pfarrers auf dem Parkplatz vor der Kirche.
»Zeit für einen letzten Gottesdienst hier«, sagte Siri, als sie ihm die Hand schüttelte.
»Zeit für einen ersten Gottesdienst mit neuen Farben zum Hindurchsehen«, sagte Lenz, und der Stolz auf Siri, der in seiner Stimme lag, ließ sie rot werden wie ein Schulmädchen. Auch wenn die Fenster ein Vorwand und das letzte von ihnen hässlich war, auch wenn alles verkehrt war.
Jemand, der so kindlich stolz auf ein paar Fenster ist, sagte sie sich, kann schließlich kein Mörder sein, und daher wird in logischer Schlussfolge doch noch alles auf erstaunliche Weise gut.
Es war der unsinnigste Satz des Jahrtausends.
† † †
Sie
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