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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Winter kommt und du eines Tages überhaupt nicht mehr da bist. Aber ich bin älter geworden. Ich bin nicht mehr acht. Ich werde es merken.
    Die Einsamkeit überfiel ihn in der harten Kirchenbank plötzlich mit aller Macht, denn die dort, in den anderen Bänken, befanden sich auf der Arche Noah, man musste sie nicht bitten, zusammenzuhalten, sie waren bereits eins miteinander. Er sah sich um, er wusste selbst nicht, wieso, und da entdeckte er über sich, auf dem Geländer der Orgelempore, zwei blasse Kinderhände. Iris.
    Ich bin hier, sagten ihre Hände. Nur für dich.
    Lass sie doch gehen. Ich bleibe.
    Als er den Blick wieder von der Orgelempore abwandte, sah er, wie Annelie aufstand oder aufzustehen versuchte, sich durch die Bank hinaustastete, mühsam. Sie war sehr blass. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis er bei ihr war.
    »Was …?«, flüsterte er.
    »Nichts«, wisperte sie. »Ich …« Sie presste eine ihrer fleckigen Hände auf ihre linke Brust. Dorthin, wo sich ihr Herz befand. »Lenz … du hast … du hast das schwache Herz erfunden, es war ja nie schwach … du hast das zu Siri gesagt, weißt du noch … dass sie mich nicht aufregen soll … jetzt … jetzt ist es doch ein schwaches Herz. Ich muss … ich muss hier raus.«
    Er nickte, obwohl sich alles in ihm sträubte, die Kirche zu verlassen, ohne noch einmal mit Siri zu sprechen. Ihr wenigstens zu sagen, wo er hinging. Sie hatte sich noch immer nicht umgedreht.
    Entglitten, entglitten.
    »Komm, Annelie«, sagte er. »Ich bringe dich nach Hause.«
    †   †   †
    Irgendwann mitten in der etwas merkwürdigen Predigt über Stürme und Kartoffelbeete hörte Siri die Kirchentür klappen. Sie zwang sich, sich nicht umzudrehen, aus reiner Höflichkeit. Der Pfarrer tat ihr leid, weil er so wenig verstand; wenn sie seinen Blick auffing, lächelte sie ihm zu. Er glaubte vielleicht wirklich an Dinge wie Paradies oder Erlösung. Er war sehr viel jünger als sie.
    Sie zwang sich, zu singen, wenn er versuchte, die Gemeinde – die Gemeinde, die keine war – zum Singen zu bringen. Die Stimmen der Kuchenfraktion bohrten sich von hinten hoch und dünn in ihre Ohren, alle Rechtschaffenheit der Welt schwang in ihnen mit und machte sie unharmonisch. Die Fischer brummten Unverständliches in ihre Bärte, in der Stimme der Katzenfrau schwangen unterdrückte Tränen einer irgendwie gefälschten Rührung mit. Kaminski sang gar nicht; nur Werters Bass klang laut und sicher durch die Kirche.
    Mitten im letzten Lied klappte die Kirchentür noch einmal, und diesmal drehte Siri sich doch um. Sie hatte den Mann, der in der Tür stand, noch nie gesehen. Er war weißblond und sonnenverbrannt, aber nicht auf die gute Art – sein ganzes Gesicht war fleckig, es schälte sich auf ungesunde Weise, und er blinzelte mit kleinen, entzündeten Augen ins Zwielicht der Kirche, verwirrt. Dann ging er durch den Mittelgang bis zu der Bank, in der die Katzenfrau mit ihren Kindern saß, schüttelte mehrmals den Kopf, wie um zu signalisieren, dass er wirklich nichts begriff, und setzte sich neben sie.
    Und da begriff wenigstens Siri.
    Der Mann, der ständig auf Montage war, der Vater der Kinder, war zurückgekehrt. Er umarmte seine Frau nicht, er drückte nicht einmal ihre Hand, er saß nur da, neben ihr und den Kindern, und blinzelte. Auf der anderen Seite, neben dem Jungen, saß Kaminski. Und alle sangen weiter.
    Da wollte Siri weinen für den Mann auf Montage.
    Seine Heimkehr war nicht wichtig genug, um mit dem Singen aufzuhören, seine Geschichte Nebensache. Er war der Einzige, der das Dorf je verlassen hatte, aber auch er konnte es nicht verlassen – sie kommen alle wieder, hatte Winfried gesagt, sie kommen alle wieder. Auch der Mann-auf-Montage würde wieder gehen und wieder lange nicht zurückkommen, wieder und wieder, aber es kümmerte sie nicht, die Leute im Dorf. Sie hatten etwas anderes zu erledigen. Sie hatten einen Mörder zu fangen, und sie waren, vermutete Siri, an diesem Tag nur in die Kirche gekommen, um herauszufinden, was der Pfarrer wusste und was nicht.
    Als sie alle hinausgingen, versuchte sie, Lenz zu finden, aber Lenz war nicht mehr da.
    Stattdessen stand plötzlich Lena neben ihr, kalkweiß und jetzt sehr gefasst. Sie hatte das Baby im Tuch vor den Bauch gebunden und streichelte sein schlafendes Köpfchen, während sie sprach. Sie sah Siri nicht an.
    »Ich denke, ich weiß, was er dir bringen wollte«, sagte sie leise und ohne Einleitung. Dann zog sie Siri

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