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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Schiff! Es will uns besuchen!«
    Das Segel dieses Schiffchens war blau, knallblau. Lenz blinzelte, als könnte er das blaue Segel samt Schiffchen wegblinzeln, doch es kam näher, ließ sich von den Wellen ans Ufer der Sandbank spülen, stieß mit einem von ihren Schiffen zusammen und wurde durch den Stoß noch näher zum Strand geschoben. Sein Mast war silbern.
    »Hol es her!«, rief Iris. »Oh, Lenz, hol es für mich aus den wilden Wellen! Du musst mit mir ins Wasser waten … es ist tief …«
    »Es ist nicht tief«, knurrte Lenz, und Iris schüttelte ungeduldig den Kopf: »Wir spielen doch! In unserem Spiel ist das Wasser tief und schwarz. Nur wir sehen, wie die Wogen das Boot hin und her werfen; wie die Person darin ihre Hände um die Ruder krallt … hebst du mich hoch?«
    »Etwas gefällt mir nicht an diesem Boot«, murmelte Lenz, aber da hing Iris schon an ihm wie ein kleiner Affe, kletterte an ihm empor und hielt sich an seinen Schultern fest, und er watete mit ihr ins Wasser. Sie angelte von seinem Rücken aus nach dem Boot und jubelte, als sie es zu fassen bekam. Er brachte sie durch die reißenden Fluten ihrer Phantasie zurück an Land, wo sie sich beide in den Sand fallen ließen, um das kleine Fahrzeug zu betrachten.
    Der silberne Mast bestand aus einem Stöckchen, um das Alufolie gewickelt war. Das blaue Segel war aus bedrucktem Papier. »Kakaoanteil siebzig Prozent«, las Lenz laut. »Jemand hat das Papier von Bitterschokolade benutzt.«
    Er kniff die Augen zusammen, und dann entdeckte er sie. Sie stand nur ein paar Meter entfernt, verborgen zwischen alten braunen und neuen grünen Halmen. Der Saum ihres geblümten Mantels schwamm auf der Wasseroberfläche; ihre hochgekrempelte Jeans war trotzdem nass geworden. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Lenz sah wieder ihre Augen, die ebenfalls blau waren, bitterschokoladenpapierblau.
    »Was wollen Sie?«, fragte Lenz leise. »Gehen Sie weg.«
    »Sie kann dich so nicht hören«, sagte Iris. Sie legte das Schiff in seine Hand, und da sah er, dass es eine Ladung trug: ein weiteres Stück Schokoladenpapier, zu einem Päckchen gefaltet.
    »Eine Botschaft«, flüsterte Iris.
    Als er es entfaltete, fiel ein Riegel schwarzer Schokolade heraus. Und auf dem Papier stand keine Botschaft. Dort stand: Was hätten Sie denn lesen wollen?
    Er knüllte das Papier zusammen, ärgerlich, und wollte es ins Wasser werfen.
    »Nein!«, flüsterte Iris. »Denk an die Singschwäne, die im Winter da sind. Sie möchten vielleicht kein Schokoladenpapier in ihrem Wasser.«
    Lenz knurrte und steckte das Papier ein. Er sah von Iris zurück zu der Fensterfrau, die noch immer am gleichen Fleck stand. Sie lächelte. Er verzog seine Augen zu schmalen Schlitzen. Ist das ein Versuch, den Wilden zu zähmen? , ließ er seine Augen fragen. Mit Schokolade?
    »Kann ich wenigstens die Schokolade ins Wasser werfen?«, fragte er Iris, »oder stören sich die Singschwäne daran auch?«
    »Idiot.« Iris pflückte ihm die Schokolade aus der Hand. »Die essen wir natürlich.«
    Lenz knurrte. »Was will sie? Was will sie mit diesem Schiff?«
    »Vielleicht will sie nett sein«, sagte Iris und schob ihre Hälfte der Schokolade in den Mund.
    Als er zum dritten Mal hinübersah, war die Fensterfrau nicht mehr da. Wo sie gestanden hatte, stand nur noch die Erinnerung an sie – die Erinnerung an einen Mantel voller Blumen und hochgekrempelte Hosen, die Erinnerung an ihr Lächeln. Sie musste zurückgewatet sein, vielleicht zum Steg. Verdammt. Er wurde sie nicht mehr los, ihr Gesicht, ihre schmale Mantelfigur, das nichtssagende Braun ihres kurzen Haars. Und in seinem Kopf kreisten Aljoschas Worte:
    Gefährlicher wär es vielleicht, wenn er Sie mögen würde.
    Er drehte sich nach Iris um. Vergiss doch die Fensterfrau, wollte er sagen, im Grunde meines Herzens bin ich acht Jahre alt, ich bin ein Kind wie du. Wir haben einander, und das ist alles, was wir brauchen. Vergiss sie, ich werde sie auch vergessen.
    Aber Iris war, natürlich, nicht mehr da.
    Er fand Annelie in ihrem Garten. Sie kniete im Gras und zupfte Unkraut aus einem Beet, und es war schwer zu glauben, dass sie im Winter ihren einundachtzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
    »Da bist du«, sagte sie, als Lenz hinter sie trat.
    »Woher weißt du, dass ich es bin?«
    »Dein Schatten. Die meisten Menschen verrät ihr Schatten. Hilf mir hoch.«
    Er half ihr, und sie war so winzig und so leicht, dass er erschrak. Sie gestattete ihm nicht oft, ihr

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