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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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zu helfen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Annelie ihn hochgehoben. Sie hatte ihn ins Bett getragen, wenn er auf ihrem Sofa eingeschlafen war, und ihn zugedeckt. Sie wird immer kleiner und leichter werden, dachte Lenz, bis sie eines Tages ganz verschwindet …
    »Was hast du auf dem Herzen?«, fragte sie, ihre Hände in seinen, und sah zu ihm auf. Ihre Augen waren, im Gegensatz zu denen von Iris, braun und sanft, karamellbraun wie die Kekse, die sie buk. »Ist es Kaminski? Hat er dir seine Freunde auf den Hals gehetzt? Oder ist es die Fensterfrau? Nein? Einer von den anderen?«
    »Du machst dich über mich lustig«, sagte Lenz leise. »Stimmt schon. Ich komme immer mit meinen Sorgen zu dir. Es ist nicht fair. Ich sollte kommen, wenn ich froh bin, nicht, wenn ich traurig bin.«
    »Dann kämst du selten«, sagte Annelie ernst. »Nein, mein Junge, du kannst immer kommen, egal, ob du froh oder traurig bist. Ich bin gern für deine Sorgen da. Für was sonst bin ich da? Die Blumen kümmert es wenig, ob da Unkraut zwischen ihnen wächst oder nicht, und die Kekse scheren sich einen Dreck darum, ob ich sie backe. Komm.«
    Sie hatte Klappstühle auf die Wiese gestellt und einen kleinen Tisch, und sie setzten sich in die Sonne, wo es noch immer kühl war. Der Garten lebte und sang um sie herum. Kein Grund zur Sorge!, riefen die Amseln. Kein Grund!, antworteten die Drosseln. Alles ist wunderbar, sangen die Meisen, schau, schau!
    »Tee?«, fragte Annelie. »Soll ich Tee machen? Ich hätte auch Kekse …«
    »Nein!« Lenz hieb mit der flachen Hand auf den Tisch und sah Annelie zusammenzucken. »Entschuldige. Annelie, ich bin kein Kind mehr, das man mit Keksen trösten kann. Ich bin einundvierzig Jahre alt. Keiner versteht das, ich bin immer noch das Friedhofskind, für alle, auch für Winfried, auch für dich, aber …« Er brach ab.
    »Ja?«, fragte Annelie, vorsichtig.
    Er sah über den Garten hin, sah das Wasser in der Vogeltränke glitzern, sah die ersten blühenden Narzissen im Wind mit ihren schweren Köpfen wippen. Alles war schön. Alles war bunt. Alles war gut.
    »Damals, als ich tatsächlich ein Kind war«, begann er, »Annelie … als ich acht Jahre alt war … etwas ist geschehen, damals. Jeder denkt, ich erinnere mich. Aber ich erinnere mich nicht. Ich habe nie gefragt, warum die Leute mich so ansehen. Warum sie … Angst haben. Ich wollte es nie wissen. Es sind nur die Leute, und sie sind dumm.«
    »Ja«, sagte Annelie. »Es sind nur die Leute, und sie sind dumm. Sie sagen, du sprichst mit den Toten.«
    »Das ist nicht alles. Die Toten sind nur ein Teil der Geschichte. Da ist noch etwas, etwas, das mit den Toten zusammenhängt.« Er blickte auf seine Hände hinab, deren Nägel schwarze Ränder hatten. Und dann sah er sie an, sah in ihr freundliches Gesicht mit den Karamellaugen.
    »Annelie. Was habe ich getan? «
    »Das«, sagte Annelie und seufzte, »weißt nur du selbst.«
    Aber sie stand auf und trat hinter ihn, legte ihre schmalen, leichten Hände auf seine Schultern. Er sah in den blühenden Garten hinein wie in ein Kaleidoskop, und er spürte, dass sie mit ihm hineinsah. Für einen Moment dachte er, sie würde ihm die Wahrheit sagen. Die grünen flirrenden Flecken im Kaleidoskop würden sich legen und ein Bild ergeben.
    »Die Vergangenheit ist so lange her«, wisperte sie. »Eines kann ich dir erzählen, Lenz. Es ist ein Traum. Ein Traum, den ich manchmal träume … der Traum davon, wie alles angefangen hat. Der Traum ist wahr, natürlich. Und er ist weiß.«
    »Weiß?«
    Er spürte ihr Nicken. »Am Anfang ist da nichts als das weiße Wirbeln. Zwischen den Flocken sehe ich in meinem Traum den Schemen einer jungen Frau, die sich gegen den Wind stemmt. Sie sind wie Sternenschauer, die Flocken … die Nacht ist dunkelblau. Und der Wind ist kein Wind, er ist ein Sturm, ein Schneesturm, ein Februarsturm. Der Februar ist der Dezember der Gegend. Die Bäume der Allee sind kaum auszumachen im Schneetreiben und bieten keinen Windschatten, an ihrer rissigen Rinde klebt der Schnee wie ein Tarnmantel und macht sie zu Komplizen im verwirrenden Einheitsweiß der Welt.
    Die Frau weiß, dass sie keine Chance hat. Sie duckt sich, doch sie weiß, dass es ihr nichts mehr nutzt. Dass der Sturm sie nicht entkommen lässt. Es ist zu weit bis zum nächsten Haus.
    Warum ist sie losgegangen? Warum hat sie die Wärme verlassen, warum ist sie hinausgetreten in die Gefahr des Winters? Und wohin geht sie – oder geht sie

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