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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sie einen Moment die Augen schloss und hoffte, nur zu träumen. Sie träumte nicht. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Sammlung menschlicher Knochen vor ihr noch immer am gleichen Fleck.
    Dies mussten all die Toten sein, die keinen Platz mehr auf dem Friedhof hatten, deren Gräber eingeebnet worden waren, deren Grabplatten jetzt an der Mauer lehnten. Es war kein Verbrechen, sie auszugraben und in einem Schrank zu stapeln. Aber allein der Wunsch, das zu tun, erzählte die Geschichte eines kranken Gehirns.
    Und dann sah sie, dass sich da noch etwas im Schrank befand, im untersten Regalfach, das noch nicht so überfüllt war wie die übrigen. Hier gab es ganz vorne noch Platz für Neues; in der sozusagen ersten Reihe lagen nur zwei ungewöhnlich zierliche, dünne kleine Knochen. Sie kniete sich davor und streckte die Hand aus, um sie zu berühren.
    Nein. Sie brachte es nicht über sich. Sie zog die Hand zurück.
    Es waren die Knochen eines Kindes.
    »Iris«, flüsterte sie.
    Der Name vervielfältigte sich und ließ sich vom wispernden Wind in alle Richtungen des Dorfes tragen, bis hinaus zum Meer.
    Neben den Kinderknochen lag der Strick, sorgfältig zusammengerollt. Alles hier war mit dem Adjektiv sorgfältig zu bezeichnen. Sogar der Umschlag neben dem Strick war sorgfältig in einem perfekten rechten Winkel zur Schrankwand ausgerichtet: ein weißer neuer Umschlag.
    Siri nahm ihn und las ihren Namen darauf, der in steiler, gestochen scharfer Füllerschrift geschrieben, jedoch schwer lesbar war. Direktorenschrift. Der Zettel in dem Umschlag war nicht neu oder nicht so neu und mit verschmiertem Kugelschreiber in einer anderen Schrift beschrieben.
     
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    mit frau pechten reden
    ihr sagen, damals carla berg war kein unfall beim baden, weil ich gesehn hab wie er sie runtergehalten hat unter wasser erst hat sie sich gewehrt aber dann nicht mehr, sie ist ganz still geworden war ja demmerlicht abends genau hatte ich es auch nicht gesehen aber da waren 2 leute im wasser und ich hab nichts erzählt weil ich immer angst hatte aber jetzt ist besser wenn ich frau pechten das doch sage
    geld von ihr nehm für die infomation? ja
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    Siri legte den Zettel in den weißen Umschlag zurück, holte ihn wieder heraus und las ihn noch einmal
    weil ich gesehen hab wie er sie runtergehalten hat unter wasser.
    Sie steckte den Umschlag in die Manteltasche und nahm das Seil aus dem Schrank. Es war rau und hart unter ihren Fingern. Ein Seil, ein Strick, in einem Boot. An einer Seite an die Ruderbank geknotet. Was bedeutete der Strick? Ein Strick bedeutete, dass jemand etwas damit festgebunden hatte. Etwas … oder jemanden. Jemand, der nicht ganz normal war, der in seinem Schrank die Knochen des Friedhofs stapelte, der die Toten bei sich brauchte, ganz nah, weil sie seine einzigen Freunde waren.
    Sie schloss die Augen. Sie sah es vor sich, obwohl sie es nicht sehen wollte, sah die Nacht, sah das heraufziehende Unwetter, sah, was geschehen war. Wenn man Erinnerungen teilen könnte, jemand anderem zeigen wie einen Film! Ihre Finger krallten sich um den Strick, und in ihrem Kopf spielte sich der Film ab, der Film jener Nacht.
    Siehst du sie?, fragte die Stimme im Film. Siehst du sie aus dem Auto steigen, mit dem sie mitgefahren ist, mit einem nicht-genug-denkenden jungen Menschen, der nicht genug gefragt hat, der ihre Geschichte vom Verloren-gegangen-sein und Zurück-zu-meiner-Mutter geglaubt hatte. Siehst du, wie die Autotür hinter ihr zuschlägt? Da kommt sie, Iris, sechs Jahre alt, sie rennt von der Bushaltestelle her den Sandweg entlang, in der Dämmerung, rennt zwischen den geduckten Häusern hindurch, biegt ab in einen Pfad, den auch du heute entlanggerannt bist, so übermütig wie sie. Sie klopft nicht an die Haustür, klingelt nicht, sie will den alten Fuhrmann nicht wecken, sie wirft einen Stein an das Fenster unter dem Dach.
    Einen Stein mit einem Zettel daran. Und das Fenster öffnet sich, und der Junge, der dort wach gelegen hat, kommt herunter.
    »Ich bin wieder da«, sagt sie. »Und jetzt bleibe ich.«
    »Sie werden dich finden«, sagt er.
    »Nein«, sagt sie. »Nicht, wenn wir zusammen weglaufen. Wir haben unsere Bucht, die nur vom Meer aus zu erreichen ist …«
    Sie sah die beiden rennen, zusammen, Hand in Hand, zum Wasser. Aber er

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