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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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durch kahle Dachbalken fiel, dass ihr ganz warm wurde davon.
    Sie rannte den Pfad zwischen den Hecken entlang wie ein kleines Mädchen. Die zerbrochenen Äste, die im Weg lagen, störten sie nicht länger, sie machten den Pfad zu einem Hüpfspiel, zu einer Bahn aus Gummitwist, denn an seinem Ende lag ein Ziel; ein Haus, das ganz bestimmt nicht länger dunkel war. Im Vorgarten saß ein Dutzend Kaninchen und sah sie an. Sie bückte sich, um eines von ihnen zu streicheln.
    »Er ist hier«, flüsterte sie. »Er ist hier, oder? Ihr seid immer da, wo er ist.«
    Die Tür stand offen.
    »Lenz?«, fragte sie in den Flur dahinter. Der Flur war so dunkel wie immer, aber das war nur natürlich, über den Räumen unten gab es die Zwischendecke, das Licht konnte nur in die oberen Räume fallen, und dort würde sie es finden.
    »Lenz?«
    Sie stand in der Küche, doch der alte Holztisch mit seinen Kerben, seinen eingeritzten Jahreszahlen und Namen schwieg. Die Küchenregale schwiegen, das Fenster, von dem sie gemeinsam die Gardinen abgenommen hatten, schwieg. Es weigerte sich noch immer, das Licht hereinzulassen.
    »Lenz? Bist du da oben?«
    Sie stieg die schmale Treppe hinauf, ihre Schritte leicht, ihre Hand auf dem Geländer wie ein Schmetterling.
    »Lenz?«
    Sie spürte ihn, sie wusste, dass er da war. Sie spürte die Anwesenheit von jemandem dort oben. Jemandem, der auf sie wartete. Und das Licht war da. Es war wirklich da. Einen Augenblick lang stand Siri am Kopf der Treppe, in einem Korridor ohne Dach, unter dem Himmel. Da waren nur die rohen Holzbalken. Hoch oben flog ein Schwarm Gänse in einem vollendeten V nach Süden. Das Licht fiel wie ein hellgelber Wasserfall auf die alten Bohlen zu ihren Füßen, es machte die Tapeten an den Wänden zur glänzend glatten, senkrechten Oberfläche eines stillen Meeres, das wartete und schwieg.
    »Lenz!«, sagte sie, sie rief nicht mehr, er war ganz nah, sie wusste es.
    Auch die Tür des winzigen Schlafzimmers war nur angelehnt; sie trat ein und schloss sie behutsam hinter sich. Ein Schlafzimmer mit einer Decke aus blauer Luft.
    Das Bett war ordentlich gemacht und unberührt. Das Licht malte Pfützen und Flecken auf die ausgeblichene Bettwäsche. Ein Windstoß wirbelte eine Handvoll trockenes Laub auf, das sich auf dem Boden niedergelassen hatte, rote zackenfingrige Blätter von wildem Wein, braune eingerollte Buchenblätter, die mit ihren Adersegmenten wirkten wie übergroße Kellerasseln.
    »Aber du bist hier«, sagte Siri. »Ich kann es fühlen. Ich weiß, dass du hier bist. Du wartest. Ist das ein Spiel? Ein Kinderspiel? Von Iris und dir? Versteckst du dich? Versteckt ihr euch beide?«
    Sie bückte sich und sah unters Bett. Da war nichts, nur ein Teil der alten Schatten, die vor dem Licht geflohen waren. Mehr Blätter. Ein paar Äste. Siri stand wieder auf und ging durchs Zimmer auf das einzig andere mögliche Versteck zu, das einzig andere Möbelstück. Es war ein großer, alter Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand, groß genug für die Kleider einer ganzen Familie. Sie lachte beinahe, weil ein Kleiderschrank solch ein Klischee war als Kinderversteck.
    »Gefunden«, sagte sie und zog die Schranktüren mit beiden Armen auf.
    Und blieb sehr still stehen.
    Es war kalt im ersten Stock ohne das Dach, der Wind fegte hindurch und machte die Sonnenstrahlen zu Eis. Siri hatte selten so gefroren. Sie schloss den Reißverschluss des Regenmantels. Ihre Finger zitterten unkontrollierbar, sie fand ihr Zittern lächerlich, hielt eine Hand mit der anderen fest, um es zu unterbinden.
    Dann zwang sie sich, hinzusehen.
    Der Schrank vor ihr war durch eingefügte Bretter sorgsam in mehrere Etagen unterteilt worden. Und in all diesen Etagen lagen, ebenso sorgsam gestapelt, Knochen. Es waren keine Tierknochen, denn dazwischen standen ganze Schädel, ordentlich beschriftet mit kleinen weißen Zetteln, die von Reiszwecken an den Regalbrettern gehalten wurden. Die meisten Beschriftungen waren zu verblichen, um noch lesbar zu sein. Einen Namen erkannte Siri: Jens Fuhrmann. Die Skelette waren nicht vollständig, es gab zu jedem Schädel nur eine Handvoll Knochen, lange Röhrenknochen, manchmal Hüftknochen, keine kleineren Teile.
    Der Schrank war tief, da waren mehrere Reihen von Schädeln und Knochen hintereinander, sie konnte nur erahnen, wie viele. Die penible Beschriftung, die Art, all diese Überreste aufzustapeln, beinahe schon zwanghaft ordentlich, gab dem Ganzen eine so makabre Note, dass

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