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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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weiß, dass man sich in keiner Bucht ewig verstecken kann. Sie erreichen das Wasser, schieben das alte Ruderboot hinein, dort neben dem Steg, wo das Schilf beginnt.
    Sie rudern hinaus, und da ist ein Strick im Boot, wer weiß, wozu, und das Wasser ist unruhig, und er sagt: »Es ist besser, siehst du, ich binde dich fest. Weil das Wasser so unruhig ist. Es soll Sturm geben. Er ist schon fast da. Wenn das Boot zu sehr schaukelt …«
    Und Siri sah das Erstaunen auf Iris’ Kindergesicht. »Aber ich kann doch schwimmen! Genau wie du! Wir sind so oft zusammen geschwommen …«
    »Es ist besser«, sagt er, und sie wehrt sich nicht, und er bindet das eine Ende des Stricks an die Ruderbank und das andere an ihre Hände, und der Sturm kommt, aber das Boot kippt nicht.
    »Iris«, sagt er. »Iris, du wirst bleiben. Für immer. Niemand wird uns trennen können, niemand. In der Bucht würden sie uns finden, irgendwann. Wir brauchen die Bucht nicht.«
    »Wieso nicht?«, fragt sie. »Was hast du vor?«
    »Iris«, sagt er. »Iris.«
    Und er lehnt sich zur Seite, weit, weit hinaus mit all seinem Gewicht, und mit der nächsten anrollenden Welle kippt er das kleine Boot. Sie ist darunter, festgebunden, er weiß es, er kommt hoch und schnappt nach Luft. Er sieht sie nicht kämpfen, die Nacht ist schwarz.
    Er schwimmt vom Boot weg, schwimmt an Land. Wringt seine Kleider aus. Rennt. Niemand darf ihn sehen. Er rennt zu dem blauen Haus auf dem Hügel, seinem einzigen Zufluchtsort. Dort gibt es keine Fragen. Sie ist fort, Iris ist fort, aber sie wird zu ihm zurückkehren, sobald sie in der Erde des Friedhofs liegt, und sie wird bleiben. Für immer.
    Und Siri sah den Morgennebel kommen und mit weißen Herbstfingern über das Wasser greifen, wo sich der Sturm längst gelegt hatte. Am Ufer stand der Direktor, der noch kein Direktor war, ein junger Musiker voller Pläne, der eine Datsche am Hafen hatte, noch nicht lange, eine Datsche nahe einem idyllischen Dorf, wo er im Wald, im Wasser, auf den Klippen neue Töne finden würde. Er zog das Boot an Land, er löste die Knoten im Strick.
    Er erzählte niemandem von dem Strick, er begriff seinen Zweck nicht und wollte nicht darüber nachdenken. Ein Unfall, sagte er sich, es musste ein Unfall gewesen sein. Sie hatte sich selbst festgebunden, um nicht aus dem Boot zu fallen, es waren die dumme Idee und die unlösbar verworrenen Knoten eines kleinen Mädchens, ganz sicher. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Sturm das Boot umkippte.
    Iris, sechs Jahre alt. Für immer.
    Siri öffnete die Augen. Draußen floss eine rotviolette Herbstdämmerung aus dem Himmel.
    Sie musste aus der Zeit gefallen sein, sie musste Stunden hier gesessen zu haben, ohne es zu merken. Sie kniete noch immer vor dem offenen Schrank, in dem die Überreste von erloschenem Leben sich stapelten wie alte Akten. Und jetzt berührte sie die beiden schmalen Kinderknochen doch, strich darüber wie über eine Wange.
    »Iris«, wisperte sie. »Wann hat er angefangen, dich wieder auszugraben? Und wozu? Wir hätten Schwestern sein können, weißt du. Wir hätten zusammen unter der Sonne herumlaufen und lachen können, da draußen in Angola. Zusammen auf der Veranda sitzen und Bücher lesen. Wir wären nie allein gewesen, du nicht und ich nicht. Aber jetzt … alles, was es von dir noch gibt, ist diese Vorstellung, diese Erscheinung im Seidenkleid. Das bist gar nicht du. Das ist etwas, das Lenz sich zusammengesponnen hat. Ein ideales Wesen, das nur ihn liebt …«
    Sie sah sich um, doch es war niemand mit ihr im Raum, kein kleines Mädchen mit schwarzen Lackschuhen, kein blauer Wirbel, kein Aufblitzen von Sonnenlicht auf blonden Kinderlocken.
    Sie würde Lenz’ ausgedachte Iris nie mehr sehen, dachte Siri.
    Sie war zerplatzt wie eine Seifenblase.
    Alles, alles war zerplatzt.
    Sie schloss den Schrank, hielt aber auch seinen geschlossenen Anblick nicht aus und lief zurück nach unten, in die Dunkelheit der Küche, wo sie merkte, dass sie den Strick noch immer festhielt. Sie legte ihn auf den Tisch. Doch der Tisch stand wie ein stummer Vorwurf im Raum: Ist es denn normal, schien er zu fragen, einen Friedhofsplan in eine Tischplatte zu schnitzen? Hättest du es nicht längst begreifen sollen, dass hier nichts normal ist?
    Sie setzte sich auf einen der Stühle und legte die Hände vors Gesicht, um nichts mehr zu sehen: keine Dunkelheit, keinen Tisch, keine Küche, keinen Strick.
    Sie hatte sich so getäuscht. Sie hatte die ganze Zeit

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