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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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in eine Ecke, die Ecke beim sechsten Fenster. Siri erwartete, das Lena etwas aus der Tasche zog, aber sie streichelte nur weiter das weiche Haar des Babys.
    »Es war ein Strick«, sagte sie. »Ein einfaches Tau. Er hat mal gesagt, dass er es dir bei Gelegenheit zeigen muss. Er hatte es damals in dem Ruderboot gefunden. Das eine Ende war im Boot festgebunden, an der vorderen Ruderbank, hat er gesagt. Der Strick lag ewig bei uns im Schuppen herum, aber er ist nicht mehr dort.«
    »Er … ist auch nicht in Frau Hartwigs Kellerwohnung.«
    »Natürlich nicht«, sagte Lena. »Er war dort, ganz sicher, aber jemand hat ihn mitgenommen. Jemand hofft, dass du nie erfährst, dass es diesen Strick gab.«
    »Aber was hat der Strick mit Aljoscha zu tun? Der Direktor hat gesagt, er hätte etwas in Aljoschas Fischerboot gefunden. Nicht in dem alten Ruderboot.«
    Lena nickte, pustete das Haar des Babys durcheinander und strich es wieder glatt.
    »Das? Das war nur ein Zettel. Er hätte ihn dir zusammen mit dem Strick gegeben, nehme ich an.«
    »Was stand darauf?«
    »Das hat er mir nicht erzählt. Nur, dass Aljoscha einen Zettel geschrieben hat, der in seiner Kajüte an die Wand gepinnt war, zwischen tausend anderen Sachen. Niemand hat ihn vorher bemerkt, denke ich … der Direktor hat gesagt, dass darauf dein Name steht. Er hat gesagt, den Rest kann er nicht lesen, aber er hat sich irgendwie darum gedrückt, mir den Zettel zu zeigen. Ich glaube, er hat sich geärgert, dass er mir überhaupt davon erzählt hat. Und von dem Tau. Er wollte nicht mit mir darüber reden. Er … er wollte mich immer beschützen. Vor irgendwelchen unschönen Wahrheiten. Später, hat er gesagt. Später erzähle ich dir, was ich denke. Aber jetzt haben wir andere Themen. Die Kleine … wir haben immer über die Kleine gesprochen und darüber, was sie schon alles kann und … wie es später wird, wenn sie läuft und spricht und irgendwann zur Schule geht … der Direktor wird es nicht mehr sehen. Noch etwas … Siri … ich habe gesagt, Frau Henning wäre die Klippen von selbst hinuntergefallen. Das stimmt. Sie hat einen Schritt rückwärts gemacht, einen seltsamen Schritt … ich habe noch einmal darüber nachgedacht. Jemand muss da gewesen sein, Kaminski hat recht. Jemand stand im Wald, sodass ich ihn nicht sehen konnte. Jemand hat sie gezwungen, diesen Schritt rückwärts zu machen. Genauso, wie jemand Aljoscha gezwungen hat, zu trinken und ins Wasser zu gehen. Es ist leicht, wenn man eine Waffe hat. Irgendwer hier hat eine. Irgendwer …«
    Ihre Stimme verebbte, die Worte flossen durch das bunte Glas des Fensters davon, und Lena schwieg. Dann drehte sie sich um und ging aus der Kirche, noch immer den Flaumhaarkopf ihres schlafenden Babys streichelnd.
    Siri folgte ihr langsam.
    Draußen stand der Pfarrer und schien auf sie gewartet zu haben.
    »Was stimmt nicht?«, fragte er, während er ihr die Hand zum Abschied schüttelte. Er deutete auf Lenas Gestalt, die durch das Tor verschwand. »Was stimmt nicht mit ihr? Mit … allen diesen Leuten hier?«
    »Gehen Sie nach Hause«, sagte Siri und bemühte sich, ihn anzulächeln. »Sie können hier nichts tun. Gehen Sie und nehmen Sie Ihren Gott mit. Er erkältet sich sonst.«
    Warum war Lenz gegangen? Und wohin? Sie stand eine Weile unschlüssig vor dem Friedhofstor, sah den Pfarrer in sein Auto steigen, sein verwirrtes Gesicht einpacken und losfahren. Sah den Wind über die zerstörten Gärten streichen. Sah das Licht auf dem Sandweg liegen, in gelben Pfützen – Herbstlicht. Der Himmel war klar.
    »Das Licht«, murmelte Siri leise vor sich hin. »Jetzt muss es den Weg ins Haus doch gefunden haben … jetzt, wo das Dach abgedeckt ist …«
    Sie war nicht dort gewesen seit dem Sturm. Und auf einmal beschloss sie, hinzugehen und nachzusehen. Sie wollte das Licht finden. Sie wollte, dass es das Haus durchflutete wie goldenes Wasser und alles auf einmal schön war. Vielleicht hatte Lenz das Gleiche gedacht. Vielleicht – nein, bestimmt war er dort. Und sie würde im goldenen Licht eine Antwort finden, eine Erklärung für alles, einen Beweis, dass er mit nichts etwas zu tun hatte; sie würden auf dem schmalen Bett in seinem Zimmer sitzen und sich umarmen und ein verspätetes Happy End dort finden. Und sie würde ihn und das Happy End mitnehmen in dem alten Golf, fort aus dem Dorf, fort, fort, fort. Sie sehnte sich mit einem Mal so sehr nach einem Happy End und nach einer Umarmung und nach Licht, das

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