Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
geschafft.
    Dieses Mädchen in seinen Armen würde kein Kindergrab auf dem Friedhof bekommen. Es würde leben. Er watete mit ihr auf den Armen aus dem Wasser, legte sie auf den Steg, um den der Sturm noch immer heulte, und beugte sich über sie. Sie atmete, sie atmete noch immer, alles war gut.
    »Amy«, sagte er. »Kannst du mich hören?«
    Ich habe mich erinnert, wollte er sagen, eben jetzt, an alles – er wollte ihr erzählen, was er gerade gesehen und gefühlt hatte, einfach, weil sie da war. Ich bin schuld, wollte er sagen, aber ich bin nicht schuld. Ich bin kein Mörder, verstehst du? Ich habe Iris nicht umgebracht.
    Und habe sie doch umgebracht. Dadurch, dass ich existierte. Dadurch, dass sie zu mir zurückwollte. Sie war verrückt, die kleine Iris, auf ihre eigene kindliche Art und Weise.
    Er sagte nichts von all dem. Er wiederholte nur ihren Namen, lauter, und schüttelte sie sacht.
    »Amy?«
    Da öffnete sie die Augen.
    »Ja«, sagte sie.
    Er hörte sie kaum, aber es war ein Ja, sie sah ihn an, es ging ihr gut, und er zog sie in seine Arme und drückte sie einen Moment lang an sich. Sie sträubte sich. Auch das war gut.
    »Was hast du da gemacht – im Wasser?«, rief er. Der Wind war ein wenig leiser geworden, man brauchte jetzt nicht mehr ganz so laut zu brüllen. »Wie zum Teufel bist du da reingekommen?«
    »Mein Bruder«, sagte sie. »Es war eine … eine Wette und ich …«
    Dann fiel ihr Kopf zur Seite, und sie schloss die Augen wieder. Als wäre sie, dachte er, einfach vor Erschöpfung eingeschlafen nach ihrem Kampf mit dem Meer. Vielleicht war es genau das. Sie atmete weiter, und das sollte fürs Erste genug sein. Der Sturm verebbte langsam. Die Nacht zog weg, es war gar nicht Nacht, es war Nachmittag. Ein seltsam blank gewaschener Nachmittag, ausgebleicht, als hätte der Sturm ihm die Farbe entrissen.
    Im Schilf hinter den drei Fischerbooten sangen die Herbstvögel.
    Lenz hob das Mädchen wieder auf und ging mit ihm den Sandweg entlang, durch das Hügelland, auf das Dorf zu. Er trug sie wie ein Baby, und ihr Körper wärmte ihn im kühlen Herbstwind. Sie war der Ersatz für alle Dinge, die schiefgegangen waren. Sie war das eine Leben, das er gerettet hatte.
    »Ich bringe dich nach Hause«, flüsterte er. »Hörst du, kleine Amy? Ich bringe dich nach Hause.«
    †   †   †
    Die Luft in dem alten Golf war ein einziger Eisblock, eine gefrorene Masse aus Siris nicht gedachten Gedanken und nicht den Gefühlen, die sie nicht fühlen wollte. Man hätte das Metall des Autos herunterschneiden können, und das Eis hätte blau glitzernd alleine da gestanden, blau wie übrig gebliebene Glasplatten, es hätte die exakte negative Form des Autos-von-innen gehabt.
    Siri saß inmitten des Eises, ihre Hände am Lenkrad festgefroren. Sie war es, von der die Kälte ausging. Sie hatte alles, was in diesem Sommer geschehen war, in sich verschlossen und versiegelt, und die Kälte war notwendig, um nichts aufbrechen zu lassen.
    Kein Bedauern, keine Verzweiflung und vor allem nicht die Erinnerung an das Sonnenlicht auf einem Ruderbootausflug oder die Wärme zweier atmender lebender Menschen auf einer alten Matratze.
    Sie fuhr langsam, der Anhänger hinderte sie daran, schneller zu fahren, und zwischendurch fluchte sie über ihn. Es stürmte jetzt draußen wieder, der Wind warf das kleine Auto hin und her, und sie musste das Lenkrad mit beiden Händen festhalten. Sie war zwei und eine halbe Stunde vom Sommer entfernt, als sie an die Stelle kam, an der sie beim letzten Mal auf den Seitenstreifen gefahren war.
    Da taute ihre rechte Hand.
    Sie lenkte den Golf wie von selbst an die alte Stelle zurück, kuppelte aus, stellte den Motor ab.
    Es war sehr still.
    Das Rauschen der vorbeirasenden Autos machte die Stille nur noch stiller. Ein rotes Herbstblatt wurde von einem Windstoß über die Fahrbahn getragen, tanzte auf Siris Frontscheibe und wirbelte wieder davon. Sie merkte, dass der ganze rechte Arm aufgetaut war, und er griff, beinahe ohne ihr Zutun, nach hinten, ihre Hand tastete auf der Rückbank, wo beim letzten Mal die weiße Schokolade gelegen hatte, tafelweise. Sie spürte ihren Rucksack und den glatten Stoff des Regenmantels. Das war alles.
    Natürlich war das alles.
    Worauf hoffte sie?
    Sie griff ins Handschuhfach; früher hatte sie einen Teil der schwarzen Schokolade dort aufbewahrt, vielleicht war eine Tafel vergessen worden. Es wäre schön, dachte sie, wenn man eine Tafel Schokolade hätte, es würde

Weitere Kostenlose Bücher