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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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letzten Abend. An das winzige Zimmer unter dem Dach, in dem er gestorben war.
    Da war das schmale Bett … sie war wieder dort, sie befand sich wieder in ihrer Erinnerung, sie spürte Lenz neben sich, über sich. Sie bewegten sich schweigend auf der alten, stockfleckigen Matratze, auf dem zu schmalen Bett, bewegten sich schweigend ineinander, schweigend und atmend.
    Einmal öffnete Siri die Augen, einmal sah sie sich um, und da stand jemand in der Tür und sah ihnen zu, stumm und aufmerksam. Eine zierliche Gestalt, zerbrechlich; ein Schatten. Es war zu dunkel, aber sie war sicher, dass da jemand war.
    »Lenz«, flüsterte sie, »Lenz …«
    Aber er antwortete nicht, und sie schloss die Augen wieder, um die Gestalt nicht mehr zu sehen. Später, viel später, drehte sie sich noch einmal um. Da war niemand. Die Tür stand auch nicht mehr offen. Wer auch immer sie beobachtet hatte, hatte sie geschlossen und war lautlos gegangen.
    Siri öffnete die Augen, in der Realität jetzt, und starrte das Blechdach des Autos an.
    Und dann wusste sie es.
    »Nein«, sagte sie.
    »Doch«, sagte Iris, die jetzt neben ihr stand.
    »Steig ein«, sagte Siri knapp.
    Sie kuppelte den Hänger ab. Sie würde ihn stehen lassen. Er war unwichtig. Sie setzte sich wieder hinters Steuer und beschleunigte, um die nächste Autobahnausfahrt zu suchen und zu drehen. Das Auto fuhr maximal neunzig.
    »Was ist es, was im Dorf geschieht?«, fragte sie.
    Iris saß jetzt auf dem Beifahrersitz und sah aus wie ein ganz gewöhnliches Kind, dem der Gurt zu groß ist und das trotzdem unbedingt vorne sitzen will.
    »Nicht fragen«, sagte sie und strich ihre Locken ungeduldig hinter die Ohren. »Fahren.«
    †   †   †
    Der Himmel war wieder blau, und da stand er also, unter einem blauen Himmel. Mitten auf dem Sandweg, mitten im Dorf, genau neben dem Friedhofstor. Der Riese in den schmutzig grauen Arbeitskleidern, die jetzt schwarz waren vom Wasser.
    Das Friedhofskind.
    Da stand er, das Mädchen auf den Armen, Amy. Das Wasser rann aus seinen Haaren und aus ihren Haaren, die rosa Strähnen waren im feuchtdunklen Blond kaum noch zu sehen. Sie waren beide klatschnass; man sah ihnen an, dass sie lange im Wasser gewesen waren. Das Wasser hatte Dinge mitgenommen, das Wasser nimmt gerne Dinge mit: Kleider. Schuhe. Amy trug nur noch ihr T-Shirt, zerfetzt an der Schulter von der Gewalt der Wellen.
    Sie hatten sie gesucht. Seit Stunden, schon im Sturm, und jetzt, da der Sturm vorbei war, waren die Letzten aus ihren Häusern gekommen, um zu helfen. Das Dorf hielt zusammen, kein jungdynamischer Pfarrer von außerhalb brauchte die Leute daran zu erinnern. Wenn ein kleines Mädchen verschwand, wurde jeder Sucher gebraucht.
    Jackie, ihr Bruder, hatte gesagt, sie wäre in Richtung Wasser gelaufen, er wüsste auch nicht, weshalb, er hätte versucht, sie aufzuhalten, aber sie hätte nicht auf ihn gehört. Vielleicht, hatte er gesagt, wollte sie die Schaumkronen sehen, vom Steg aus, wer weiß …
    Der Erste, der Lenz sah, war Werter.
    Er kam von dem Pfad zwischen den Hecken, er war bei Fuhrmanns Haus gewesen und hatte auch dort gesucht, man wusste nie, man musste alles in Betracht ziehen. Und als er auf den breiten Sandweg abbog, stand das Friedhofskind da, die kleine Amy in den Armen, kaum bekleidet, klitschnass, die Augen geschlossen.
    Werter bewegte sich einen Moment lang nicht. Er wartete ruhig ab, bis das Begreifen von seinen Augen durch seinen ganzen Körper geflossen war. Die Zweite, die dazukam, war Amys Mutter. Die Katzenfrau. Und kurz darauf der Vater. Und auf einmal kamen die Leute des Dorfes aus allen Ecken, es war, als zöge ein großer Magnet sie zu jenem zentralen Ort, dem Sandweg vor dem Friedhofstor, all die Sucher-und-nicht-Finder, all die Besorgten. Selbst Lena war da, das Baby in der Trage vor den Bauch geschnallt, unter ihrer Windjacke. Oder vielleicht war es die Windjacke des Direktors, die sie trug. Sie hatte im Dorf Zuflucht gesucht vor dem Sturm, sie hatte nicht allein sein wollen mit dem Heulen des Windes, sie war zu Frau Hartwig geflohen und hatte Kaffee und Kekse bekommen, armes Mädchen, armes, armes Mädchen … erzähl mir vom Direktor, ich kannte ihn kaum, erzähl … selbst Lena hatte mitgesucht, als sie erfahren hatten, dass Amy fort war.
    Nur der Professor fehlte, da er ausschließlich am Wochenende existierte. Der Professor und die glückliche Familie. Ihr Leben gehörte in eine Welt außerhalb der Schatten.
    Lena aber wartete mit den

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