Friedhofskind (German Edition)
nichts nützen, aber es wäre schön.
Im Handschuhfach war keine Schokolade.
Dort lagen nur die Autopapiere, die man natürlich niemals im Handschuhfach lassen sollte, ein alter Strafzettel, ein paar zerknüllte Tankstellenbelege, ein mehrfach gefaltetes Stück Papier, der Eiskratzer … ein mehrfach gefaltetes Stück Papier? Vermutlich ein weiterer Beleg, eine Rechnung von irgendetwas … aber es war nicht Siris Art, solche Dinge sorgfältig mehrfach zu falten.
Sie nahm das Papier heraus und strich es glatt, und natürlich war es nichts, gar nichts, es war der Durchschlag einer sehr alten Gasrechnung. Sie starrte die Zahlen eine Weile an, bis sie begriff.
»Ich habe kein Gas«, sagte sie laut. »Ich wohne in einer Wohnung mit Zentralheizung.«
Sie drehte das Papier um.
Auf der Rückseite der Rechnung standen Worte. Handgeschriebene Worte, Worte in einer großen, krakeligen, kindlichen Schrift, einer Jungenschrift. Aber hier und da gab es Wörter, deren Linienverlauf beinahe erwachsen wirkte. Eine Schrift im Stimmbruch.
Das erste Wort hieß: Abschiedsbrief.
Siris linker Arm taute auf. Der Eisklotz, der das Auto füllte, begann, langsam, kaum merklich, zu schmelzen und aus den Türritzen auf den Seitenstreifen der Autobahn zu tropfen.
Abschiedsbrief – wenn man sich verabschiedet, schreibt man einen Abschiedsbrief.
Aber wir haben uns nicht verabschiedet. Du gehst morgen, sagen sie.
Ich wollte dir nur sagen:
Ich habe das nicht verstanden.
Ich habe die Sache mit Kaminski nicht verstanden.
Ich habe nicht verstanden, warum du mich angesehen hast, am Fenster.
Ich habe verstanden, was du in deiner Manteltasche hast und wozu du es hast.
Aber ich habe nicht verstanden, warum du es nicht benutzt hast.
Ich bin der Mörder deiner Schwester, und du hasst mich.
Warum hast du nicht abgedrückt? Und was war vorher?
Als wir zusammen in der Datsche gewohnt haben, war das alles nur ein Theaterstück?
Hast du nur darauf gewartet, alles herauszufinden? Eine Gelegenheit zu finden, die Pistole zu benutzen?
Aber was war dein letzter Beweis? Warum hast du so plötzlich entschieden, mich zu hassen? Vor der Kirche haben wir noch miteinander gesprochen. Ich habe Annelie nach Hause gebracht, weil es ihr nicht gut ging … und dann war alles anders. Was hast du gefunden oder gesehen oder gehört, während ich in dem blauen Haus auf dem Hügel war?
Ich weiß schon, du wirst mir nie antworten, weil du nicht wiederkommst.
Sie kommen alle wieder, hat Winfried gesagt. Er hat sich geirrt.
Übrigens habe ich Winfried nicht umgebracht. Er ist, denke ich, von allein gestorben.
Lenz.
Ja, alles taute, das Tauwasser lief Siri übers Gesicht und ihren Hals hinunter, tropfte in ihren Pullover und machte ihn dunkel und nass. Der letzte Beweis – die Dinge im Schrank, der Strick, die Knochen –, er wusste es doch, er musste es begriffen haben, oder nicht?
»Nein«, flüsterte sie dann. »Die Schrift. Die Schrift ist eine andere. Es ist nicht die Schrift auf den Schildchen im Schrank. Die Schrift bei den Schädeln war … erwachsener. Und auch die Schrift auf dem Tisch, Siri Weiß, 1980 bis 2012, diese Schrift war genauso erwachsen.« Sie schloss die Augen und sah die Worte wieder vor sich, die mit Kugelschreiber auf die Tischoberfläche geschrieben waren, neben der Kerbe für ein neues Grab. Es waren drei verschiedene Schriften, dachte sie:
Der Brief von Lenz – die sorgfältige Betitelung der Knochen – die Schrift auf dem Tisch.
Fuhrmann.
Der alte Fuhrmann.
Die Schildchen im Schrank konnten genauso gut vom alten Fuhrmann stammen. Er war lange genug Totengräber gewesen. Er hatte genug Gräber eingeebnet in seinem Leben, mehr als Lenz. Und er war definitiv nicht ganz normal gewesen.
Aber wer hatte ihren eigenen Namen und ihr Todesdatum auf den Tisch geschrieben? Nicht Lenz. Nicht der alte Fuhrmann. Eine dritte Person. Eine dritte Person hatte ihren Namen geschrieben, um sie einzuschüchtern. Der Strick … und der Umschlag vom Professor … jeder konnte diese Dinge in den Schrank gelegt haben. Beinahe kam es ihr auf einmal so vor, als wären sie absichtlich dorthin gelegt worden, leicht zu entdecken. Als hätte jemand gewollt, dass sie sie fand. Jemand. Die dritte Person.
Was war dein letzter Beweis?
»Ich habe keinen«, sagte sie laut. »Ich habe keinen. Und die Bilder, die ich gesehen habe … aus der Nacht, in der Iris ertrunken ist … das war nur meine eigene Vorstellung. Sie bedeuten nichts, diese
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