Friedhofskind (German Edition)
gestellt, dessen Gasflasche leer war – ein etwas bemühter Witz.
Er hatte ihnen das Genick gebrochen und ihnen die Bäuche aufgeschnitten, und Lenz blieb nichts zu tun, als zu hoffen, dass es in dieser Reihenfolge geschehen war.
Iris hatte zwischen den kleinen, pelzigen Körpern auf dem Boden gesessen, eines der Kaninchen im Arm, und ihre Hände waren klebrig, ihr Gesicht verschmiert gewesen von dem Rot. Sie hatte zu ihm aufgesehen und die Schultern gezuckt, und im Rot auf ihren Wangen hatte er Spuren von Tränen gefunden.
»Ich konnte nichts tun«, hatte sie geflüstert. »Es tut mir leid, Lenz. Ich konnte nichts tun.«
»Gehen wir dich waschen«, hatte er gesagt. Mehr nicht.
Jetzt stand sie neben ihm am hölzernen Geländer der Klippe, das niemanden davor bewahrte, hinunterzufallen. Sie sah mit ihm zusammen hinaus in die Mittagsnacht, hinaus zum Horizont, von wo der Weltuntergang kam.
Er drehte den Kopf und sah sie an, und da, zum allerersten Mal, sah er sie durchsichtig werden, für Bruchteile von Sekunden, ehe sie wieder fest neben ihm auf beiden Beinen stand. Es war, als flackerte sie wie eine Flamme, die zu verlöschen droht. Er dachte an Frau Henning, die hier hinuntergestürzt war, vielleicht, weil jemand im Wald jenseits des Pfades gestanden und sie gezwungen hatte, diesen einen letzten Schritt rückwärtszugehen. Frau Henning mit ihrer verhängnisvoll bunt gefleckten Jacke. Aber vielleicht hatte die gefleckte Jacke ja gar nichts damit zu tun? Wenn es doch wahr war, wenn es Siri gewesen war, die im Wald gestanden hatte? Siri besaß eine Waffe, sie war die einzige Person, die er kannte, die eine Waffe besaß.
Er hatte schon einmal darüber nachgedacht – sie war bei allen Morden in der Nähe gewesen, und das musste nicht daran liegen, dass jemand eigentlich sie hatte umbringen wollen. Alles konnte anders gewesen sein.
Dann schüttelte er den Kopf und lachte über sich selbst.
Nein, nein. Natürlich war sie es nicht gewesen. Sie hatte vielleicht vorgehabt, ihn zu töten, ihn, den Mörder ihrer Schwester. Aber niemand anderen.
»Sie ist jetzt auf der Autobahn«, sagte er laut. Der Sturm schickte seine ersten Vorboten, Lenz hörte seine eigenen Worte kaum. »Auf der Autobahn kurz vor Berlin …«
»Lass sie doch gehen«, sagte Iris. »Vergiss sie.« Sie sah ihn an, flehend beinahe, und nahm seine Hände. »Kannst du das?«
»Kann ich das?«, rief er, er schrie, gegen den Sturm an, gegen das Brausen, gegen die ersten Regentropfen. »Ich weiß es nicht!«
Und dann geschah etwas. Etwas, womit Lenz nicht gerechnet hatte. Iris zeigte hinunter in die Wellen und schrie noch etwas, das er nicht mehr verstand. Aber er sah, was sie sah. Da trieb etwas auf den Wellen, etwas wie ein Kopf mit blondem Haar, und die Person, der er gehörte, wurde von der Strömung der Wellen immer weiter hinausgesogen. Ein Kind, dachte er, es ist ein Kind.
Der Kopf ging unter, tauchte wieder auf, da waren zwei Arme … ein Kind, das mit der Brandung kämpft, dachte Lenz. Er tauchte unter dem Geländer durch und begann, den Steilhang halb hinabzuklettern, halb zu schlittern – an exakt der Stelle, an der Siri es versucht hatte.
Er fiel, so wie Siri gefallen war, aber er hatte damit gerechnet. Es gelang ihm, abzurollen und sich nicht zu verletzen; nichts als ein paar Prellungen und Abschürfungen von den Steinen. Das Wasser war kalt. Natürlich, es war Herbst. Und das Meer rechnete die Zeit richtig; es war ein Oktobermeer, seine Kälte kam nicht zu spät, schon gar nicht zwei Monate.
Lenz sah im Augenwinkel Iris’ blaues Kleid, ehe er in die Wellen tauchte. Sie stand dort am Ufer und wartete auf ihn. Hilf mir, bat er im Stillen, hilf mir … lass sie mich finden in diesem Labyrinth aus Wogen und Schaum. Lass sie mich nicht verfehlen, bitte. Wer immer sie ist.
Einen wahnsinnigen Moment lang dachte er: Siri. Siri ist zurückgekommen, so wie damals Iris. Ich habe mich getäuscht, und es ist gar kein Kind … aber warum sollte Siri zurückgekommen sein, um sich in das Sturmmeer zu stürzen? Es ergab keinen Sinn.
Hatte es denn damals Sinn ergeben? Bei Iris?
Er fand das Kind nicht, er durchschwamm das Wellenchaos umsonst, er sah von hier unten nicht so viel wie oben … wenn Iris ihn hätte lotsen können! Aber sie war nur eine Erinnerung, kein guter Geist. Er musste alleine klarkommen.
Klarkommen, dachte er, während er weiterschwamm … wann war er denn klargekommen? Klar war eigentlich nie etwas gewesen, alles
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