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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hatte sich immer vage und nebelig und verschwommen angefühlt … ein ganzes Leben voller Halbwahrheiten und verschwommener, schattenhafter Erinnerungen!
    Jetzt! Jetzt sah er den Kopf wieder, den Kopf auf den Wellen, ganz nah. Doch, es war ein Kind. Der Sturm wollte ihn nicht an es heranlassen, aber das kümmerte ihn nicht. Er tauchte unter den Wellen hindurch. Mit zwei, drei Stößen unter Wasser war er bei ihr, er tauchte auf und legte einen Arm um ihren Hals, sie wehrte sich nicht, sie war schon zu schwach von ihrem Kampf gegen das Meer.
    Er erkannte sie in dem Moment, in dem er sie festhielt: Amy, das Kind mit den rosa Haarsträhnen, die Tochter der Katzenfrau, die Kaminski auf diesem Trampolin … die Kinder, dachte Lenz, können nichts dafür. Für gar nichts.
    Was tat sie hier draußen? Wie war sie ins Wasser gekommen? Er spürte nicht, ob sie atmete, er hoffte es nur, und er begann, sie durchs Wasser aufs Ufer zuzuschleppen wie damals Siri mit ihrem verletzten Bein. Und doch ganz anders.
    Dieser kleine Körper hier bewegte sich nicht, sprach nicht mit ihm, gab kein Zeichen des Lebens von sich. Und die Angst, es könnte kein Leben mehr in ihm sein, war schlimmer als der Sturm, gegen den er jetzt anschwimmen musste.
    Die Anstrengung sang in seinen Ohren, immer wieder warfen die Wellen ihn zurück, er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er Amy aus dem Griff der Wogen gepflückt hatte. Er wusste nicht, ob sie eine Chance hatte – ob sie eine Chance hatten, sie beide. Er wusste nur, dass er es versuchen musste.
    Und dann – an dem Punkt, an dem er glaubte, aufgeben zu müssen –, dann erinnerte er sich.
    Die Erinnerung kam zu ihm wie eine weitere Welle, sie war die natürliche Fortsetzung des Weltuntergangs. Und sie war glasklar.
    Er lag in der Nacht, lag auf seinem Bett und schlief nicht.
    Iris war fort, er war so allein wie nie zuvor – wie sollte er schlafen? Als Winfried nach ihm gesehen hatte, hatte er die Augen geschlossen und sich bemüht, ruhig zu atmen. Er wollte nicht, dass Winfried mit ihm über Iris sprach. Obwohl es ohnehin nicht sehr wahrscheinlich war, dass Winfried mit ihm über irgendetwas sprechen wollte.
    Und dann schlug etwas gegen sein Fenster. Ein Vogel, dachte er, ein Vogel musste gegen die Scheibe geflogen sein. Es kam vor; die Schwalben nisteten im Sommer unter dem Dach bei seinem Fenster. Aber jetzt war nicht Sommer, sondern Herbst, und Herbst war keine Zeit für brütende Schwalben. Er stand auf und trat ans Fenster. Öffnete es.
    Da lag etwas, unten, vor dem Haus. Etwas Helles. Er schlich die Treppe hinunter, an der Küche vorbei, in der Winfried vor dem Fernseher vermutlich eingeschlafen war, hinaus in die kühle Nacht. Ein Zettel. Es war ein Zettel, um einen Stein gewickelt. Er nahm ihn mit ins Haus, um ihn im Licht zu lesen, das durch die angelehnte Küchentür in den Flur fiel.
    Es war Iris’ große Kinderschrift, und sein Herz begann zu rasen.
    Lenz! Ich bin zurück. Und diesmal bleibe ich. Du musst mich nicht suchen, nicht jetzt. Ich wollte nur, dass du das weißt! Dass ich da bin! Wir treffen uns morgen. Du weißt schon, wo. Wo wir immer waren. Sag keinem was. Bis bald. Iris.
    Eine Minute lang überlegte er. Eine halbe, eher. Dann schlich er die Treppe wieder hoch, zog sich leise an und verließ das Haus. Du musst mich nicht suchen. Wir treffen uns morgen, du weißt schon, wo. Wo wir immer waren. Was sollte das? Was war ihr Plan?
    Die Bucht, dachte er. Ihre geheime Bucht.
    Aber wenn sie hier war, warum sollte er sie nicht jetzt sehen, jetzt gleich? Er musste sie sehen, er sehnte sich nach ihr.
    Wie war sie ihren Eltern entwischt? Und, wichtiger: Wie wollte sie zur Bucht kommen? Man konnte sie nur vom Wasser aus erreichen, schwimmend oder mit dem Boot. Sie waren oft hinausgerudert, im Boot von Iris’ Vater. War es das, was sie vorhatte? Jetzt, nachts, ganz allein?
    Der Wind hatte aufgefrischt, sie hatten Sturmböen angesagt im Radio. Aber Iris hatte noch nie auf Dinge wie das Radio geachtet. Er rannte. Er kam nicht voran, der Wind kam von der Seite und warf ihn ein paarmal fast von den Füßen, Herbstlaub und Äste wirbelten um ihn herum wie böse braune Nachtwolken, die ihm das Gehen schwer machten.
    Als er am Steg ankam, beleuchtete das Mondlicht zwischen den zerrissenen Wolken eine Landschaft aus Gischt und Wasserzacken wie den schuppigen Rücken eines Drachen. Der Sturm zauste die Bäume am Ufer und brach ihnen die Arme. Lenz sah das Boot. Es tanzte da

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