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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Bilder.«
    »Natürlich nicht«, sagte jemand hinter ihr, und sie fuhr herum, starr vor Schreck.
    Auf der Rückbank, zwischen ihrem Rucksack und dem geblümten Regenmantel, saß Iris. Sie sah ein wenig zerzaust aus, als hätte sie sich auf dem Boden des Autos versteckt und wäre dabei eingeschlafen und eben erst aufgewacht. Oder so, als käme sie direkt aus dem Sturm.
    »Iris«, flüsterte Siri. »Wie kommst du hierher?«
    »Ich bin schon eine Weile hier«, antwortete Iris und strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. »Aber ich konnte nicht mit dir reden, weil du es nicht wolltest. Dreh um.«
    »Was?«
    »Dreh um. Jetzt. Etwas geschieht, im Dorf, Siri. Etwas, das nicht gut ist. Ich habe ein schlechtes Gefühl.«
    Siri öffnete die Autotür und stieg aus, trat mitten hinein in den Sturm, der mehr Blätter vorbeiwirbelte, alte Plastiktüten, zerknüllte Papiere. Sie sah, wie Iris auf der anderen Seite aus dem Auto krabbelte.
    »Ich fahre nicht zurück!«, rief Siri gegen den Wind an. »Es … geht nicht! Nein! Sicher, es … es gibt keine Beweise, aber … Lenz ist ein Mörder! Ich weiß es! Es spricht zu viel dafür!«
    »Nein!«, schrie Iris. »Du hast dich mit allem geirrt!« Sie stampfte mit einem ihrer Füße in den schwarzen Lackschnürstiefeln auf. »Du hast etwas übersehen! Jemanden übersehen! Die ganze Zeit über!«
    »Wen?«, schrie Siri.
    Sie hatte begonnen, auf und ab zu gehen, denn jetzt, wo sie getaut war, fror sie draußen im Sturm. Der Mantel lag noch immer auf der Rückbank.
    »Wen habe ich übersehen?«
    »Das kann ich dir nicht sagen!«, schrie Iris. »Wie denn auch? Hast du denn gar nichts verstanden? Ich bin nur ein Teil von dir, ein Bild in deinem Kopf, eine Vorstellung! Was glaubst du, weshalb ich manchmal überhaupt nicht rede wie ein Kind? Weil ich deine Vorstellung bin. Wie soll ich dir Dinge sagen, die du nicht weißt? Du musst schon selber darauf kommen!«
    »Du bist nicht meine Vorstellung, du bist Lenz’ Vorstellung!«, schrie Siri, wütend jetzt.
    »Und? Was bedeutet es wohl, dass du mich auch siehst? Was sagt dir das über euch beide?«
    »Nichts, gar nichts!«, schrie Siri. »Höchstens, dass wir sie beide nicht mehr alle haben!«
    »Dreh um!«
    »Nein! Ich habe mich entschieden, es war schwer genug … du solltest mir dankbar sein. Ich habe ihn nicht erschossen, obwohl ich gekommen bin, um genau das zu tun. Sei doch froh, dass er lebt, dein perfekter, wahnsinniger, kindischer Lenz!«
    Iris hatte ebenfalls begonnen, neben dem Auto auf und ab zu gehen, während sie sich anschrien, und es war ein seltsames Bild: das blaue Kleid im Sturm, die weißen Socken und die altmodischen schwarzen Schnürschuhe, die über den modernen Asphalt stapften, zornig, hin und her und hin und her.
    Die vorbeirasenden Autofahrer sahen natürlich nur eine Frau, die auf dem Seitenstreifen herumlief und wild gestikulierte, mit sich selbst sprechend, merkwürdig. Eine Frau, ganz allein.
    »Und du!«, schrie Siri. »Du willst ja überhaupt nicht, dass ich zurückgehe! Warum sagst du dann, ich soll es tun?«
    »Natürlich will ich das nicht!«, schrie Iris. »Natürlich nicht! Er gehört mir . Du tust ihm weh. Er ist mein Freund! Aber etwas geschieht im Dorf, und ich kann nichts tun, weil ich nicht bin ! Du, du kannst etwas tun!«
    »Ich kann gar nichts tun«, sagte Siri und blieb stehen, mit hängenden Armen. »Ich konnte noch nie etwas tun. Ich war immer die, die nur am Rand stand und sich die Augen zuhielt, wenn etwas Schreckliches geschah.«
    »Aber die … die bist du doch gar nicht mehr!«, rief Iris. »Und jetzt denk mal nach! Denk endlich nach, wer versucht hat, dich zu beseitigen! Auf den Klippen und in der Kellerwohnung. Denk nach, wer Winfrieds Leben beendet hat! Wer gehört hat, was Winfried gesagt hat …«
    »Was … was hat er denn gesagt?«
    »Denk! Nach!«, brüllte Iris und stampfte wieder mit dem Fuß auf. Sie war, für eine bloße Vorstellung, doch sehr energisch.
    »Er hat gesagt … er weiß, wer der Mörder ist«, murmelte Siri. »Ich glaube nicht mal, dass das stimmte … aber … du meinst, jemand hat es gehört? Jemand außer Lenz und mir?«
    »Wer war denn da? Wer? War? Denn? Da? Wer war im Haus?«
    »Niemand«, antwortete Siri, und sie sah, dass Iris sie am liebsten gebissen hätte für ihre Dummheit.
    Siri stützte sich mit beiden Händen aufs Wagendach, schloss die Augen und versuchte, den Verkehrslärm und den Sturm auszublenden. Sie erinnerte sich an Winfrieds

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