Friedhofskind (German Edition)
nicht an.
»Siri«, sagte sie. »Sie sind …« Das Sprechen bereitete ihr Mühe, sie bekam nicht genug Luft zum Sprechen. Siri sah jetzt, dass ihr Gesicht eine seltsame violette Färbung angenommen hatte. »… nicht mehr da. Sie sind … weggefahren.«
Siri nickte. »Aber wir kommen alle zurück«, sagte sie. »Auch ich. Der alte Fuhrmann hatte doch recht.«
Sie zog sich einen Stuhl heran, einen weiß gestrichenen Stuhl, und sah Annelie an. Ihr Haar, das das Licht einfing, ihre filigranen Hände mit den noch filigraneren Adern, die auf der Bettdecke lagen. Die feinen geplatzten Äderchen über ihren Wangenknochen.
»Warum Aljoscha?«, fragte sie.
»Aljoscha?«
»Hören Sie auf zu spielen.«
Annelie sah weg, sah zum Fenster hin, aus dem man aus ihrer Perspektive, vom Bett aus, vermutlich nur ein Stück blauen Himmels sah.
Siri legte den Gegenstand, den sie unter den Kissen gefunden hatte, auf die Bettdecke. Es war eine Pistole, größer, effektiver als ihre eigene, kein Kinderspielzeug. Eine alte Pistole. Der Himmel wusste, woher Frau Ammerland sie hatte. Es war unwichtig, eine eigene Geschichte vermutlich, wie die von Siris Waffe.
»Ja«, sagte sie. »Ja, Sie haben recht. Ich bin diejenige, welche. Natürlich … natürlich.« Sie lächelte trotz ihrer Luftnot, mitten im erschreckenden Blauviolett ihrer Gesichtshaut.
»Aljoscha … Aljoscha war … eine Warnung. An Sie. Abgesehen davon, dass ich ihn nicht leiden konnte … er wollte Ihnen etwas sagen … er starb … ich dachte, Sie verstehen es und gehen.«
»Aber ich bin nicht gegangen.«
»Nein.« Annelie seufzte. »Ich konnte ihn … sowieso nie leiden. Ich habe im Grunde … im Grunde nur die … Kaninchen befreit. Lenz mochten sie. Die … Kaninchen. Schon komisch … wie sie ihm … hinterhergelaufen sind. Aber ich … ich werde Ihnen was sagen. Wir laufen ihm alle hinterher. Wir alle. Winfried … und Sie … und ich … und seine Iris, die gar nicht … existiert … er war ein hübscher Junge, damals. Wirklich. Er hat nie … nie verstanden …«
Sie schüttelte den Kopf, eine Übung, die ihr große Mühe zu bereiten schien. »Oder er wollte … wollte es nicht verstehen. Vierzig Jahre … vierzig Jahre sind zu viel. Ich bin vierzig Jahre älter als er. Ein hübscher Junge. Er kam immer nur her, wenn wieder etwas … etwas Schreckliches passiert war. Wie damals, als er versucht hatte, Iris aus dem Wasser zu ziehen. Ich habe ihn hier schlafen lassen, seine Kleider getrocknet, ihn am nächsten Morgen nach Hause geschickt, ehe jemand aufgewacht war. Er hat in meinen Armen geschlafen, das war, ehe er ein paar Monate lang mit keinem von uns sprach … Mitleid schafft Nähe …« Sie brach ab. »Und dann tauchte Carla Berg auf. Charlotte Fuhrmann. Seine Mutter. Sie hat … sie hat ihn im Schnee gelassen und einfach … praktischerweise angenommen, er wäre nicht mehr am Leben … und dann hat sie sich achtzehn Jahre lang nicht gekümmert. Aber plötzlich stand sie da … plötzlich … und wollte ihn kennenlernen. Sie war hier, verstehen Sie … hier … und hat mit mir gesprochen … sie wollte ihn mitnehmen. Tja.«
Sie schwieg eine Weile, atmete nur, es kostete sie all ihre Kraft.
»Sie hat ihn nicht mitgenommen«, sagte Siri.
Annelie schwieg.
»Und dann mussten Sie mich loswerden. Sie hatten Angst, dass ich ihn mitnehmen könnte. Ihnen wegnehmen. Sie … Sie haben den Strick und den Zettel von Aljoscha in den Schrank gelegt, ja? In den Schrank mit der Knochensammlung?«
»Winfrieds Knochensammlung.« Sie gab ein leises, ersticktes Lachen von sich. »Ha. Er hat … immer gesagt, er bewahrt … bewahrt ihr Andenken auf seine Weise … wenn sie keine Gräber mehr haben … Winfried … er war immer … merkwürdig.«
»Den Strick jedenfalls, den Strick aus dem Ruderboot, und den Zettel, den der Direktor mir geben wollte, haben Sie dort hingelegt? Und in den Tisch unten ein Grab für mich geritzt?«
Annelie zuckte mit den Schultern, die Bewegung kaum merklich, hilflos.
»Würden Sie es immer noch tun?«, flüsterte Siri und sah auf die Pistole, die auf der Bettdecke lag. »Mich umbringen? Wenn Sie noch könnten?«
»Es ist zu spät«, flüsterte Annelie und streckte ihre Hand aus – nicht nach der Pistole, sondern nach Siris Gesicht, um ihre Wange zu streicheln. »Ich … ich hab es nicht eingesehen … aber es ist zu spät. Ich sterbe, Siri. Lenz gehört mir nicht mehr. Er hat mir … nie
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