Friedhofskind (German Edition)
nirgendwohin? Läuft sie vor etwas weg?«
Annelie ging wieder zu ihrem Stuhl hinüber, setzte sich und schloss die Augen, als wäre sie auf einmal unendlich müde geworden.
»Sie duckt sich noch tiefer«, fuhr sie fort. »Man hört nur die Musik des Sturms, heulend und tosend in den Ästen der getarnten Bäume. Das Meer, das nicht weit ist, schweigt still, denn es liegt unter dem Eis begraben, und still schweigt auch das Kind im Wagen unter seiner Decke, die weiß ist von Schnee.
Die Frau kann das Kind nicht sehen, sie hat es in viele Lagen aus warmem Stoff gewickelt, aber sie sind schon lange unterwegs, eine Ewigkeit. Vielleicht ist der Schnee längst durch die Ritzen zwischen die Decken gedrungen, vielleicht liegt das Kind dort, steif wie ein Eisklumpen, die stillen Tränen in den winzigen Wimpern gefroren zu glitzernden, durchscheinenden Kristallen, die kleinen Fäuste für immer geöffnet in einem verzweifelten, letzten Griff nach seiner Mutter.
Sie kann nicht nachsehen, sie schiebt den Wagen weiter, schiebt und schiebt und schiebt dann nicht mehr, weil der Schnee zu hoch ist, selbst auf der Straße. Die Frau lässt sich hineinfallen in diesen Schnee, vollkommen erschöpft, den Sturm in den Ohren. Sie kann nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, sie gibt auf, und der Kinderwagen ist nur noch ein Gegenstand, der Windschutz bietet. So kauert sie mitten im Sturm, auf einer einsamen Landstraße, fern von allem, was lebt.
Das Kind im Wagen ist – oder war – vier Monate alt.
Sie versucht, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber auch ihre Erinnerung ist eingefroren. Sie weiß nicht mehr, wie es war, das Kind im Arm zu halten, es muss wohl einmal warm gewesen sein. Das Kind hat ihr immer vertraut, sein ganzes kurzes, winziges Leben lang. Sie schließt die Augen, legt den Kopf auf die Arme – und dann lässt sie den Wagen los, denn sie kann ihn nicht länger festhalten. Der Sturm kippt ihn um, zieht ihn hinab in eine Schneewehe. Schlaf, Kindchen, schlaf …«
Annelies Stimme verlor sich im vagen Grün des Gartens. Lenz beugte sich vor, berührte ihr Knie.
»Annelie? Das war es nicht, was ich hören wollte. Ich wollte etwas über ein älteres Kind hören, viel älter … ein Kind und ein Boot … draußen, im Sturm, auf dem Meer …«
Sie hatte die Augen noch immer geschlossen, ihr Atem ging ruhig. Auch Annelie schlief.
Da seufzte er und stand auf und ging durch den Garten davon.
† † †
»Es ist seltsam«, sagte Siri. »Weißt du, ich sitze an der Skizze für das zweite Fenster … seit Tagen. Die Vertreibung der Pharisäer aus dem Paradies. Nein, Entschuldigung. Aus dem Tempel. Das Kind, das ich zeichne … egal, wie oft ich neu anfange, es sieht einfach nicht aus wie Jesus. Ich meine, nicht dass jemand wüsste, wie Jesus als Kind ausgesehen hat. Und es weigert sich standhaft, die Leute aktiv zu vertreiben.«
Sie klemmte den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter und brach ein Stück Schokolade ab. Noch zwanzig Tafeln. Sie würde Nachschub besorgen müssen.
Sie hatte es geschafft, immerhin, hier zu bleiben, ihrem Vorsatz treu zu bleiben. Das Telefon war eine andere Sache, man würde ja wohl ab und zu telefonieren dürfen?
»Die Wohnung«, sagte sie in den Hörer. »Die Wohnung ist auch so eine Sache. Ich habe die Werkstatt eingerichtet und mein Zimmer … Frau Hartwig hat sogar gesagt, es wäre schön. Sie mag das Teeservice. Man kann darin leben. Ich meine: Nicht in dem Teeservice, in dem Zimmer. Aber das Licht fehlt. Und manchmal habe ich Angst, dass jemand … jemand plötzlich in der Wohnung auftaucht. Wie ein Geist. Ich hatte neulich Nacht … etwas wie eine Vision. Jemand stand im Zimmer, ich konnte es deutlich spüren … aber dann war niemand da. Nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen … ich hätte das nicht erwähnen sollen … es war sicher nur Einbildung. Jedenfalls ist es draußen zum Zeichnen auf die Dauer zu kalt. Wie? Ja, natürlich ist auch hier Mai, überall auf der Welt ist Mai, aber der Mai hier ist der März der Gegend … Also zeichne ich doch in der Wohnung. Aber da sind Frau Hartwigs Augen. Überall. Ich kann sie fühlen. In der Tapete, in der Decke, im Boden, sie sind einfach da. Genau wie die Augen von allen Leuten im Dorf. Fischaugen. Irgendwie tot, aber doch wieder lebendig, freundlich und doch wieder bedrohlich … wie soll ich dir das erklären? Es ist eine Art kollektives Auge … ja. Ja, ich spinne. Danke, das weiß ich
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