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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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schon.«
    Sie brach noch ein Stück Schokolade ab, und es brach mit dem Klirren von Fensterglas.
    »Jesus? Was ist mit Jesus? Ach so, das Kind auf meinen Skizzen … es sitzt einfach da, weißt du, ein verlorenes Kind zwischen grauen Quadraten. Und vorhin habe ich begriffen, dass die Quadrate keine Verkaufsstände sind. Es sind Grabsteine. Die Pharisäer haben die gleichen Augen wie die Leute hier, und sie verkaufen nichts, nur ihre eigenen geflüsterten Worte. Sie fliehen auch ganz von selbst. Sie fliehen, weil sie nicht mehr ungestört über Saatkartoffeln und Sonderangebote sprechen konnten, ohne dem starren Blick des Kindes zu begegnen.«
    Sie lauschte eine Weile ins Telefon.
    »Ja«, sagte sie schließlich. »Ja, das werde ich tun. Ich werde hinausgehen. Du hast recht. Was? Ich dich auch.«
    Und dann warf sie den Stift hin, zog den Regenmantel an und verließ die Kellerwohnung. Sie brauchte Luft. War das, was sie zeichnete, noch ein Seelenfenster? Spiegelte es auf irgendeine Weise das Dorf? Oder spiegelte es nur ihre eigenen kreisenden, gefangenen Gedanken?
    Der Wind draußen warf sich ihr ins Gesicht und wollte ihr den Mantel vom Leib reißen, und sie war froh, sich gegen ihn stemmen zu können, der Wind brachte einen zurück in die Wirklichkeit. Am Rande des Dorfes, auf einer kleinen Anhöhe, thronte das blaue Haus mit dem Keramikschild, auf dem A. Ammerland zu lesen war. Siri hatte viermal dort geklingelt. Frau Ammerland schien – für eine alte und herzkranke Person – eine Menge unterwegs zu sein, denn sie war kein einziges Mal an die Tür gekommen.
    Als der Wind sie an der schmalsten Gasse des Dorfes vorüberwehte, sah sie aus dem Augenwinkel das baufällige Haus an ihrem Ende, von dem Kaminski gesprochen hatte: ein dunkles geducktes Wesen, das Reet des Daches schwarz vom Alter, die Wände grau verputzt und nie gestrichen. Einen Moment blieb sie stehen und starrte das Haus an, und es schien zurückzustarren, mit blinden Fensteraugen, verborgen hinter altersbraunen Gardinen.
    Dort wohnten sie, der alte und der junge Fuhrmann, der alte und der junge Totengräber – es war wie in einem Märchen. Sie war dort gewesen. Aber nur, wenn sie gewusst hatte, dass der junge Fuhrmann nicht zu Hause war.
    Der Klingelknopf sah aus, als wäre er noch aus Bakelit, und der niedrige Zaun vor dem Haus stand windgeneigt, ein stummer Zeuge von Jahrzehnten, die sich anfühlten wie Jahrhunderte. Auch der alte Fuhrmann hatte Siri seine Tür nicht geöffnet. Die Sträucher, die um das Haus herum wucherten, wuchsen mit ihren Ästen ins Dach hinein. Es wirkte keineswegs pittoresk. Es wirkte … verwahrlost.
    Siri bog nicht in die Gasse ein, nicht diesmal, sie ließ sich vom Wind weitertragen bis durchs Friedhofstor. Hier war jede Hecke sorgsam beschnitten, jede Blume dort, wo sie hingehörte und wo sie sich wohlfühlte. Man sah, dass sich jemand Gedanken darüber machte, wie alles zu sein hatte.
    Nein, dachte Siri, Lenz Fuhrmann lebte nicht in dem dunklen Haus, auch wenn er vielleicht dort schlief. Er lebte auf dem Friedhof.
    Siri ging an den Reihen der Gräber entlang. Es wäre, dachte sie, tatsächlich nicht unpraktisch gewesen, mit einigen von ihnen zu sprechen. Man könnte sich einen Klappstuhl nehmen, sich vor ein Grab setzen, Kugelschreiber und Notizblock gezückt: »Und? Herr Andreas Wenzlow? Sie sind ja sicher noch zur Kirche gegangen, Sie haben Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt, lange vor der Abschaffung der Religion, Sie müssen sie gekannt haben, die Fenster … erzählen Sie, ich höre zu. Und Sie, Frau Erna Klotzow, verheiratete Teissen? Zwei Fenster habe ich schon, vier fehlen mir noch …«
    Aber Siri besaß weder einen Klappstuhl, noch konnte sie mit den Toten sprechen. Und sie bezweifelte, dass Lenz Fuhrmann es konnte. Menschen, die auf Parkbänken saßen und ins Leere starrten, hatte sie genug gesehen in ihrem Leben, und das einzig Tote, womit sie sprachen, waren ihre eigenen toten Träume.
    Sie ging um die Kirche herum. Auf der vom Dorf abgewandten Seite stand eine Reihe einfacher alter Metallkreuze mit Daten um siebzehn- und achtzehnhundert, deren Geburts- und Todesdaten nahe beieinanderlagen: Kindergräber. Woran waren die Kinder gestorben? An einer Epidemie? Während einer Hungersnot? Einer Kältewelle? Siri versuchte, sich das Dorf vorzustellen, damals: Die Augen der Leute waren vermutlich die gleichen gewesen.
    Sie dachte an das Kind Jesus im Tempel und das Kind Lenz Fuhrmann auf dem Friedhof und

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