Friedhofskind (German Edition)
das Kind im blauen Kleid, das vor ihr fortgelaufen war.
Und dann flog die Kirchentür auf, und ein kleiner, untersetzter Mann in einem verwaschenen weinroten Wollpullover kam herausgestürzt, gefolgt von Frau Henning, Frau Hartwig und drei weiteren Frauen. Erst am anderen Ende des Friedhofs blieb er stehen, drehte sich um und hackte auf die Krähen ein. Das hieß, er hackte nicht; er spuckte ihnen Worte ins Gesicht.
»Wenn Sie glauben, dass Karottenkuchen zu einem Pfingstgottesdienst passt!«, spuckte er. »Aber ich werde trotz allem Glühwein machen, die Leute frieren uns ja ab in der Kirche …«
»Glühwein gehört nicht in eine Kirche!«, rief Frau Henning.
»Schon gar nicht an Pfingsten!«, rief Frau Hartwig.
»Als hätten Sie eine Ahnung von Kirchen!«, spuckte der Mann im roten Pullover. »War Pfingsten nicht die Sache mit dem Heiligen Geist? Bitte, ich kann auch Grog mit Birnengeist ausschenken, aber Glühwein kommt billiger.«
»Sie müssen sich in die Liste eintragen«, sagte eine der anderen Frauen, »egal, was Sie nun machen.«
»Ich trage mich doch in keine Kuchenliste ein, wenn ich Glühwein mache! Überhaupt ist das meine Sache! Ich habe den Schlüssel für die Kirche, weil ich die Verantwortung habe. Und hier auf der Liste, da steht unter ›Kuchen‹ auch ›Frisches Grün‹, was soll denn das sein, ein grüner Kuchen?«
»Unsinn. An Pfingsten muss die Kirche doch geschmückt werden …«
»Und dafür hat Frau Hartwig sich eingetragen. Dabei habe bis jetzt immer ich dafür gesorgt. Weihnachten der Tannenbaum …«
»Den Sie im Wald geschlagen haben, ohne den Förster zu fragen …«
Der Pullovermann verschränkte die Arme. »Ich weigere mich, auf diese Art mit irgendwem über den Pfingstgottesdienst zu reden. Dann machen Sie das Ganze doch alleine.«
»Das werden wir auch«, sagte Frau Henning und trat nach einem Kaninchen, das neben ihr eine Kleeblüte abfraß, sich aber nicht treten ließ, sondern davonhoppelte. » Sie waren elf Tage lang nicht da, elf! Wissen Sie, wie viele Touristen sich vielleicht in dieser Zeit die Kirche ansehen wollten? Jetzt müssen Sie auch nicht wieder auftauchen. Nur den Schlüssel brauchen wir.«
»Und den kriegen Sie nicht«, sagte der Pullovermann. »Nicht von mir. Wissen Sie, wo ich war? In der Klinik. Hab mir die Beine machen lassen. Die Blutgefäße waren alle verstopft, fast wär ich hopsgegangen, aber man kann ja im Sterben liegen, Leute wie Sie kümmert das nicht. Überhaupt gibt es im März keine Touristen.«
»Es ist Mai«, sagte Frau Henning.
»Sag ich doch«, knurrte der Mann, wandte den Frauen den Rücken zu und ging zu dem Stück der Mauer hinüber, von dem man das Meer sehen konnte. Dort holte er eine Pfeife heraus und begann, zu paffen, an die Mauer gelehnt, den Frauen den Rücken zukehrend.
»Ich kann so nicht arbeiten!«, rief Frau Henning und schlug die Hände vors Gesicht, und die anderen Frauen scharten sich um sie wie Hühner.
Siri biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Dann ging sie zu den Frauen hinüber.
»Glühwein!«, schluchzte Frau Henning, als sie bei ihnen ankam. »An Pfingsten!«
»Entschuldigung«, sagte Siri, »wann ist denn dieser Gottesdienst? Und wer hält ihn?«
»Der Pfarrer«, antwortete Frau Hartwig.
»Das … dachte ich mir. Ich meine: welcher Pfarrer? Woher kommt er? Kann ich ihn wegen der Fenster fragen?«
»Ich fürchte, nein«, sagte Frau Henning und seufzte. »Er ist erst seit ein paar Jahren hier. Arbeitet in allen Dörfern abwechselnd … der wird nichts wissen.«
»Kommen Sie übrigens nicht auf die Idee, ihn zu fragen«, sagte Frau Hartwig und deutete auf den Mann, der an der Mauer lehnte. »Der erzählt ihnen irgendwas, was er sich ausgedacht hat, um sich interessant zu machen. Das … ist der Umbrich.«
Es klang, als spräche sie von einem ausgestorbenen oder hoffentlich bald aussterbenden Nagetier, aber offenbar war es nur ein Nachname.
»Der Umbrich glaubt«, zischte Frau Henning, »er sei der Küster. Aber ich bin die Küsterin, es gibt keinen Küster. Er verwaltet den Schlüssel – niemand weiß, weshalb – und schließt auf, wenn Touristen kommen, und dann erzählt er ihnen die verrücktesten Geschichten über die Kirche. Denkt sich Jahreszahlen aus, behauptet, er könnte Orgel spielen, klimpert rum und verstellt alles! Wenn er den Schlüssel nicht rausrückt, wie kommen wir dann an Pfingsten in die Kirche? Mit dem Kuchenbuffet? Wir machen immer ein Kuchenbuffet. Wir
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