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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Frauen helfen zusammen, schon im Krieg war das so …«
    Siri war ziemlich sicher, dass Frau Henning, Frau Hartwig und der Rest der Kuchenfraktion im Krieg noch kleine Kinder gewesen waren. Sie stellte sich vor, wie sie als marodierende Mädchenbande durchs Dorf rannten, um die Jungen mit ihren Springseilen zu verhauen. Es war ein erstaunlich passendes Bild.
    »Pfingsten ist übrigens diesen Sonntag«, sagte Frau Hartwig. »Die Leute kommen von weit her, um Pfingsten in unserer Kirche zu feiern, weil sie so hübsch und alt ist. Kommen Sie auch?«
    »Ich bin ja schon hier«, sagte Siri und lächelte.
    Sie fragte den Umbrich doch.
    Sie fragte ihn, nachdem die Kuchenfraktion gegangen war. Zunächst nur, ob er ihr die Kirche aufschließen konnte. Er konnte. Innen war die Kirche so klein wie außen und sehr kahl. Sie besaß eine hölzerne Orgelempore, und auf dem Altar stand eine Vase mit verwelkten Zweigen. Die Bänke schienen in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich vom Holzwurm besucht zu werden.
    »Sie können ’ne Postkarte kaufen«, sagte der Umbrich. »Hier, in dem Ständer sind welche, sehen Sie … antiker Holzschnitt von der Kirche … da hatte sie noch einen Turm, das war vor dem Dreißigjährigen Krieg.«
    »Oder es war einfach eine völlig andere Kirche«, murmelte Siri.
    »Wie? Ja, und hier ist ein Bild von diesem holländischen Maler, wie heißt der noch? Was mit R … der hat die Kirche auch schon gemalt. Die meisten Leute glauben, das auf seinem Bild wäre eine andere Kirche, eine aus Holland, aber sehen Sie, hier, die senkrechte Mauer? Das ist auf jeden Fall unsere Kirche. Und …«
    »Wissen Sie etwas über die Fenster?«, fragte Siri. »Die alten? Ich sammle die Erinnerungen der Leute, um neue Fenster zu machen.«
    »Die … Fenster?« Einen Moment schwieg der Umbrich, als müsste er über etwas nachdenken. Oder vielleicht schwieg er nur des Effekts wegen. Dann trat er einen Schritt näher und flüsterte: »Ich … hab eins.«
    »Wie?«
    »Damals«, flüsterte er, »wie die Fenster alle rausgesprungen sind, das war schon komisch. Die Leute haben sich nicht so recht getraut, die Reste anzufassen. Eine Woche lang hat keiner was damit gemacht, und dann waren sie verschwunden, irgendwer hat sie letztlich aufgeräumt. Aber eins hab ich mitgenommen. Ein Fenster. Na ja, ein Stück .«
    »Warum … sind sie herausgesprungen? Ich meine … doch nicht alle auf einmal?«
    »Oh doch«, sagte der Umbrich. Sein Atem roch nach Wacholder und nach etwas, in das der Wacholder eingelegt gewesen war. Etwas Hochprozentiges. »War im Mai, so wie jetzt, am ersten Tag, an dem der Frühling gekommen ist … der Wind hat die Blüten vom Apfelbaum durch die Luft geschmissen, das weiß ich noch … und da tat’s mit einem Mal diesen Knall, und alle Fenster fielen aus ihren Fassungen. Die kleinen schwarzen Bleistücke von dazwischen lagen überall im Gras verstreut, das war wie bei einer Sprengung. Nur dass keiner was gesprengt hat. Ich hab dann dieses eine Stück aufgehoben. Wollen Sie’s sehen? Aber … sagen Sie keinem, dass ich das hab, nachher isses noch was wert und die Henning und die Hartwig machen wieder einen Aufstand.«
    Siris Herz schlug schneller, als sie hinter dem Umbrich die schmale hölzerne Stiege zur Orgel hinaufkletterte. Oben kniete er sich hin, etwas mühsam, und löste eines der Bodenbretter. »Mein Vater hat hier früher sein Saatgut versteckt«, erklärte er, leise in sich hineinlachend, »hübsch ordentlich in Säckchen eingenäht. Und meine Großmutter das Silberbesteck, als die Russen kamen … bitte sehr.«
    Siri beugte sich vor. Auf der Hand des Umbrich lag nichts als eine handtellergroße Scherbe.
    Sie war blau. Von einem Blau, das Siri bekannt vorkam, einem Blau, dass sich vor ihr in einer ungemähten Wiese versteckt hatte.
    Das Stück Glas, die Scherbe, das Blau war bemalt. Es zeigte eine Figur in einem langen Gewand, die Haare hell eingeätzt und in Silbergelb nachgezeichnet, einer Farbe aus dem 14. Jahrhundert. War die Figur Maria? Die stets blond dargestellte Maria aus dem Land, in dem es keine blonden Frauen gab?
    »Ich hab immer gedacht«, flüsterte der Umbrich, »dass sie aussieht wie die Kleine, in die sich unser Friedhofskind damals so Hals über Kopf verliebt hat.« Er lachte auf eine seltsame, hölzerne Art. »Hat ja nichts anderes mehr gesehen, der Junge – von dem Moment an, wo sie aufgetaucht ist, in ihrem blauen Kleidchen. Blau wie das Glas hier, schon ein

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