Friedhofskind (German Edition)
die Bäume hochkommt.«
»Sitzen Sie deshalb da oben?«
Fuhrmann lachte trocken. »Wer weiß?«
»Er hat gesagt, die Frau auf dem Glas … Maria Magdalena … dass sie ihn an jemanden erinnert. Iris.«
Fuhrmann schwieg, richtete sich aber auf seinem Ast auf. Er hielt sich jetzt fest.
»Wer ist Iris Weiß?«, fragte Siri.
»Hat er Ihnen das nicht erzählt? Der Umbrich? Haarklein? Sie reden doch so gerne, Dieleute.«
»Ja, sie reden«, erwiderte Siri. »Aber sie sagen nichts.«
»Das liegt vielleicht daran, dass sie nichts wissen. Nichts über gar nichts. Wenn Sie ihnen versichern, in den Städten hätte man jetzt herausgefunden, die Erde wäre eckig, werden sie es glauben.«
»Sie sind ungerecht«, sagte Siri. »So dumm sind die Leute hier nicht. Sie können doch nichts dafür, dass sie nie aus dem Dorf herauskommen … und was ist mit Ihnen?«
Fuhrmann sah über sie hinweg in die Ferne. »Warum wollen Sie wissen, wer Iris ist?«
Weil sie vor mir wegläuft, dachte Siri. Auf eine Art, die bedeutet, dass sie möchte, dass ich ihr nachlaufe. Sie braucht Hilfe. Ich bin mir nicht sicher, wobei.
Laut sagte sie: »Ich versuche, etwas über die Leute hier herauszufinden … sonst kann ich die Fenster nicht machen. Die Kleine … Iris … sie ist mit Ihnen befreundet?«
»Ihre Eltern haben eine Datsche in der Nähe des Stegs«, sagte Lenz, seine Stimme sachlich und distanziert, als gäbe er die Worte zu Protokoll, damit die Sache ein für alle Mal abgehakt war. »Sie kommt jeden Sommer, und wenn sie da ist, lassen wir zusammen Schiffchen schwimmen. Klettern auf Mauern. Lauter solche Sachen. Wenn sie sich nicht gerade versteckt.«
»Sie müssen ein seltsames Bild abgeben, als Paar«, sagte Siri und lächelte. »Ein erwachsener Mann und ein kleines Mädchen auf einer Mauer.«
»Kann schon sein«, sagte Fuhrmann.
»Hätten Sie …« Siri zögerte. »Hätten Sie was dagegen, wenn ich hierbliebe und die Skizze für das dritte Fenster anfinge? Es ist nicht mehr so kalt …«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte Lenz Fuhrmann. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
Er kletterte ein Stück am Stamm hinab, sprang dann und landete direkt neben ihr. Er landete nicht wie etwas, das über zwei Meter groß ist, er landete leicht und federnd. Wie ein Kind.
Sie sah zu ihm auf und zwang sich, keinen Schritt zurück zu machen.
»Warum hat mir der Umbrich die Scherbe geschenkt?«, fragte sie leise. »Warum hat er mir von Iris erzählt?«
»Weil Sie«, sagte Lenz Fuhrmann langsam, »Iris’ Augen haben.«
Siri ging an der Reihe der eisernen Kreuze vorüber, unter denen vor zweihundert Jahren die kleinen Körper toter Kinder zur Ruhe gebettet worden waren.
Die Melancholie der Orgeltöne kehrte zu ihr zurück und legte sich schwer auf ihre Schultern wie ein Mantel aus Blei. Fensterglas-Blei. Wenn ich ein Kind hätte, dachte sie, würde ich jetzt an dieses Kind denken, und vielleicht wäre die Melancholie dann nicht zu ertragen.
Aber es barg zu viele Risiken, ein Kind zu haben. Alles konnte mit Kindern passieren, immer, in jedem Augenblick. Es war möglich, dass sie eines Tages allein auf einem Friedhof saßen und ins Leere starrten, bis die Leute sie für unheimlich hielten.
Reiß dich zusammen, Siri, sagte sie lautlos zu sich selbst.
Denk an das blau-weiß geblümte Teeservice. Die Muschelsammlung auf den Fensterbrettern. Den Blumenstrauß in der Vase, den du gestern erneuert hast. Alles ist freundlich und schön um dich – Schluss mit der kitschigen Frühlingsmelancholie!
Und dann fand sie noch ein Grab, ein einzelnes Grab in der Reihe hinter den alten Kreuzen. Es war natürlich die ganze Zeit über da gewesen, aber sie hatte es nie gesehen zwischen dem Moos und den Blumen.
Oder hatte sie es nicht sehen wollen?
Drei oder vier Kaninchen grasten neben dem Grab und ließen sich nicht stören.
Der Stein war von exakt dem gleichen Grau wie Lenz Fuhrmanns Augen, und ein dickes Büschel weißer Maiglöckchen wucherte an seinem Fuß. Daneben saß ein steinernes Schneehuhn, eine freundliche rundliche Figur wie ein Kinderspielzeug. Die Inschrift auf dem Grabstein war schlicht und unverschnörkelt.
I RIS M AGDALENA W EISS
*
12.5.1973 in Berlin
†
14.10.1979
Für einen kurzen Moment verspürte Siri das Bedürfnis, sich an jemandem festzuhalten. Es war niemand da.
Sie hockte sich vor das Grab und streckte die Hand aus, um das Schneehuhn zu streicheln.
Der Stein war kalt, aber das Moos darauf fühlte
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