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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hübscher Anblick …«
    »Bitte, was für eine Kleine?«, fragte Siri.
    »Wie war noch der Name?« Der Umbrich überlegte. »Doris … oder Iris … ja, Iris. Iris Weiß. Weiß wie Schnee. Weiß wie Schwarz. Ist mit ihren Eltern aus Berlin gekommen, nur für den Sommer, hatten eine Datsche unten beim Wasser. Man kommt hin, wenn man vom Steg aus den Weg weitergeht.«
    »Sie … sie ist hier«, sagte Siri. »Aber ich habe ihre Eltern nie gesehen.«
    Der Umbrich sah sie seltsam an. »Nein. Obwohl der Vater, der Vater war hier, diesen Winter, seit Langem mal wieder. Haben uns alle gewundert. Kaminski hat mit ihm gesprochen. Der war ja ’ne Weile richtig weg, der Mann, Afrika oder so. Na, man kann’s ja verstehen, dass sie weg sind damals, er und seine Frau … Das hier, also das war das Fenster hinter dem Altar. Maria Magdalena, so hieß die Frau, glaube ich. Sie war nur ganz winzig, ganz hinten. Aber sie war auch in der Mitte, sodass man sie immer angucken musste. Und Christus war auf dem Weg zu dieser Magdalena, obwohl eine Menge Leute vorne rumstanden und nicht wollten, dass er hingeht, so irgendwie war das.« Er machte Anstalten, die Scherbe wieder in ihr Versteck unter dem losen Brett zurückzulegen, doch dann überlegte er es sich anders und legte sie stattdessen in Siris Hand.
    »Nehmen Sie sie mit«, sagte er leise. »Sie hat lang genug hier oben herumgelegen.« Er strich mit den Fingerspitzen über die Tasten der Orgel, und Siri murmelte etwas wie ein Danke.
    »Ja, ja«, sagte der Umbrich und drückte eine der Tasten. Der Ton hallte durch die ganze kleine Kirche, es war ein tiefer und feierlicher Ton, und der Umbrich spielte noch einen Ton in den ersten hinein, einen höheren. Die Töne waren wie zwei Menschen, dachte Siri, wie zwei Seelen, hoch und tief, jung und alt, zwei, die nicht zusammenpassten und doch zusammenklangen, und dieser Klang erzeugte eine unerklärliche Melancholie.
    »Die Henning mag das nicht, wenn ich spiele«, sagte der Umbrich. »Und die ganze Kuchenpartei. Ich kann das mit der Orgel. Tasten drücken, bisschen improvisieren, das liegt mir, tatsächlich. Obwohl ich natürlich nicht so gut spiel wie die Kleine. Ich seh das direkt noch vor mir, wie sie da sitzt, das Kleidchen ganz ordentlich über den Hocker gebreitet … sie war erst sechs oder sieben Jahre alt. Und dann diese Musik! Unten die Leute, völlig still … wenn er sich nie in sie verliebt hätte, vielleicht würde sie immer noch spielen, für uns, wer weiß?« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Gehen wir.«
    Und dann stand Siri wieder unten vor der Kirche und blickte dem Umbrich nach, der zwischen den Gräbern davonging, ein wenig gebeugt von der Zeit, aber mit Orgeltönen im Kopf.
    Ein Kaninchen floh, als er am Tor beinahe darauftrat.
    Siri stellte ihn sich vor dreißig Jahren vor, wie er in einer Kirchenbank saß und das Fenster ansah, auf dem das blonde Mädchen im Hintergrund stand und doch in der Mitte. Maria Magdalena. Iris Weiß.
    Iris aus der Stadt, sechs Jahre alt und mit Musik in den Fingern.
    Sie war nicht Lenz’ Tochter.
    Siri wollte noch einmal um die Kirche herumgehen, sich das Fenster hinter dem Alter von außen ansehen, in dessen Mitte einst Maria-Magdalena-die-Scherbe ihren Platz gehabt hatte. Sie kam allerdings nicht bis dorthin. An der Westseite der Kirche wuchsen zwei große, alte Eichen, so hoch, dass Siri sie bisher fast übersehen hatte. Jetzt spürte sie, dass jemand sie von dort oben ansah. Sie blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken.
    Er saß auf dem untersten Ast der ersten Eiche, die Knie angezogen, den Kopf daraufgelegt: Lenz Fuhrmann. Er hielt sich nicht fest.
    Die Pose, in der er saß, war die eines Kindes, und sie dachte wieder, dass er die Höhe bevorzugte, wie eine Katze, wie ein Lebewesen, das sich auf der Erde klein fühlt und angreifbar. Eine seltsame Einstellung für einen nicht mehr ganz jungen Mann von knapp über zwei Metern.
    Einen Moment sahen sie sich nur an. Dann hielt sie ihm die Scherbe entgegen und sah, wie seine Augen schmal wurden.
    »Der Umbrich hat ein Stück von einem der Fenster aufbewahrt!«, rief Siri.
    »Ach was«, sagte Fuhrmann. Er rief nicht, sie verstand ihn auch so ganz gut, und sie kam sich lächerlich vor, weil sie gerufen hatte. Als wären nicht fünf, sondern fünfhundert Meter zwischen ihnen. »Und Orgel hat er auch gespielt, ja? Für Sie ganz persönlich? Wenn die Henning nicht in der Nähe ist, spielt er für jeden, der nicht schnell genug

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