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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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etwas fragen. Er konnte sich vorstellen, was es war.
    »Was hat er Ihnen getan?«
    Gerade die Fensterfrau. Verdammt, er spürte noch den Stoff ihres Regenmantels unter seinen Fingern, als er sie gepackt und festgehalten hatte. Ihr gesagt hatte, sie solle verschwinden. Er hatte sich, dachte er, genauso benommen wie die hysterische junge Frau hinter dem Zaun.
    †   †   †
    Der Abend lag erstaunlich lau über dem Dorf. Vom Meer herauf wehte eine Brise, die den Geruch nach Salz und Fischen und Tang mitbrachte, die Kälte aber vergessen hatte.
    Siri ließ das rote Haus mit dem hohen Zaun hinter sich und wanderte den Sandweg entlang, eine Tafel schwarze Schokolade in der Tasche. Der Regenmantel hatte große Taschen, sehr geeignet für Schokoladentafeln.
    Sie aß die Schokolade im Gehen und dachte über den hohen Zaun nach und über die hysterische Frau und Kaminski und das Trampolin.
    »Das Friedhofskind«, hatte die hysterische Frau gesagt, zwischen zwei Schluchzern. »Haben Sie gesehen, wie es gestarrt hat? Es taucht einfach auf und starrt! Sie sind neu hier, und Sie sind allein, eine Frau allein in einer Ferienwohnung. Schließen Sie bloß die Tür gut ab, nachts! Der Typ ist nicht ganz normal. Der ist imstande und steht plötzlich bei Ihnen im Zimmer.«
    »Ich habe ihr gesagt, dass sie sich vorsehen soll«, hatte Kaminski gesagt. »Komm. Nimm die Kinder mit rein.«
    Er hatte Siri zugenickt, ein Nicken, als würden sie sich gut kennen, ehe er sich umgedreht hatte. Sie sah noch seinen breiten Beschützerrücken vor sich, sah, wie er sie alle ins Haus scheuchte und die Tür schloss.
    Siri schüttelte den Kopf und betrat den Friedhof. Er lag still in der Dämmerung, jetzt grub niemand mehr Beete um, die Hektik des Tages war vergessen und die Luft auf schwerelose Weise still.
    Nur die Tür der Kirche war noch angelehnt, jemand musste vergessen haben, sie abzuschließen.
    »Der junge Fuhrmann … er hat doch gar nichts getan«, flüsterte Siri. »Nichts. Er hat nur am Zaun gestanden, das ist alles. Ich habe es gesehen, von Weitem.«
    Sie dachte an die unbestimmte Präsenz in der Dunkelheit der Ferienwohnung und an ihre Angst, aber die Angst war verschwunden. Das Adjektiv, das ihr in den Sinn kam, wenn sie an Lenz Fuhrmann dachte, war hilflos . Seine große Gestalt vor dem Zaun oder auf der Eiche: Er wirkte immer ein wenig hilflos, ein wenig verloren. Sein einziger Freund war ein Kind, das vor zweiunddreißig Jahren gestorben war.
    Vielleicht war er nicht ganz normal.
    Sicher war er nicht ganz normal.
    Aber sie konnte sich nicht vor ihm fürchten.
    Sie spürte die Glasscherbe in ihrer Tasche, neben der Schokoladentafel.
    Die Kirchentür stand einen Spaltbreit offen. Vielleicht, dachte Siri plötzlich, gab es noch mehr Scherben. Vielleicht lagen unter den Dielen der Orgelempore mehr Figuren in gläsernen Kleidern, die der Umbrich ihr nicht sofort gezeigt hatte, damit er länger etwas davon hatte, interessant zu sein.
    Es schadete nichts, nachzusehen.
    Sie schlüpfte durch den Türspalt ins Innere der kleinen Kirche, wo es nach Putzmittel, Staub und Zigaretten roch. Irgendwo musste es einen Lichtschalter geben. Sie machte ein paar Schritte in die Dunkelheit, dorthin, wo sie die Treppe vermutete und wo es vielleicht einen Lichtschalter gab. Sie fand keinen Schalter. Die Tür fiel hinter ihr zu. Es war wirklich verdammt dunkel.
    Und dann spürte sie es: Jemand war hier. Jemand oder etwas.
    Es war wie mit der unbestimmten Präsenz in der Nacht in der Ferienwohnung. Sie stand still und lauschte. Und die Angst, die sie geglaubt hatte überwunden zu haben, schwappte zurück wie eine eiskalte Welle.
    Sie hörte ein Atmen. Es atmete ganz nah. Mühsam. Leise pfeifend.
    Sie machte einen Schritt zurück, streckte die Hand aus – und fand die Tür nicht mehr.
    Ruhig, sagte sie sich, ganz ruhig. Du bildest dir das Atmen nur ein. Die Tür ist da, natürlich ist die Tür da. Das Wichtigste ist es, sich jetzt nicht der Panik hinzugeben. Aber die Panik war wie ein Liebhaber. Komm, komm, lockte sie, komm zu mir! Verlier die Fassung, mal dir Das Schreckliche aus, gib dich auf. Was da ist, ist keine Einbildung, es ist wirklich da, viel wirklicher als der Schatten neben deinem Bett. Und meinst du nicht, Siri Pechton, dass es auf dich gewartet hat? Schrei, flüsterte die Panik, renn!, säuselte die Panik, flieh. Versuch, zu fliehen. Es wird natürlich bei dem Versuch bleiben. Du wirst über deine eigenen Füße stolpern und fallen …
    Sie

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