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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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haben dich alle gewarnt.
    Etwas ist in diesem Dorf geschehen, vor langer Zeit – etwas, das mit allem zu tun hat, auch mit der atmenden Präsenz in der Dunkelheit.
    Siri machte noch einen Schritt zurück, oder vielleicht eher zur Seite – und stieß gegen etwas. Etwas, das auf dem Boden lag, etwas Großes und Schweres; etwas Weiches. Ein undefinierbares … Ding. Sie hörte ihren eigenen Schrei, kurz, halb erstickt, und öffnete die Augen, ohne etwas zu sehen.
    Ihre Hände tasteten blind und vergeblich durch die Schwärze, hektisch, unkontrolliert. Es gab keine Tür, noch nicht einmal eine Wand, nur das Atmen auf dem Boden. Es war das Ding, das atmete; auf diese mühevolle, pfeifende Art.
    Dann drang ein Stöhnen aus seiner Tiefe, ein schmerzhafter, gequälter Laut – und in diesem Moment fand Siris Hand endlich die Tür. Sie fuhr über das alte Holz, um nach der Klinke zu fassen, merkte, wie sich ein langer Splitter in ihre Handfläche fraß, und sog die Luft ein vor Schmerz.
    Die Klinke, da war die Klinke.
    Sie riss die Tür auf. Mondlicht und vages Straßenlaternenlicht fluteten durch die Öffnung. Siri machte einen Schritt ins Licht, wollte die Tür hinter sich zuschlagen und rennen. Lauf!, sagte die Panik. Aber sie lief nicht. Sie drehte sich um.
    Das Ding lag am Fuß der steilen Treppe, die zur Orgelempore hinaufführte.
    Es war kein Ding, natürlich nicht. Es war ein Körper. Aber die Stellung seiner Arme und Beine wirkte wie ein merkwürdig arrangiertes Stillleben. Es gelang ihr, mit zitternden Fingern den zweiten Flügel der Kirchentür zu öffnen, um mehr Licht hereinzulassen. Das Zerbrochene bewegte sich.
    »Oh Gott«, flüsterte Siri.
    Sie erkannte jetzt, wer da auf dem Boden lag.
    Es war der Umbrich. Er hob den Kopf, eine Bewegung wie in Zeitlupe, und ihr erster Gedanke war: Er ist betrunken, er schläft hier seinen Kater aus. Aber er roch nicht nach Alkohol. Er roch nach etwas Erdigem und Metallischem. Etwas Feuchtem und Rotem.
    Sie kniete sich vor ihn hin und streckte die Hand aus, wagte aber nicht, ihn zu berühren.
    »Herr Umbrich?«, wisperte sie. »Können Sie mich hören? Ich bin es, Siri Pechton. Was … was ist passiert?«
    Der Umbrich schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen. Ein dunkles Rinnsal lief aus seinem Mundwinkel. Siri spürte, wie ihr schwindelig wurde.
    Da war ein Wort: »Ich.« Das Wort quoll mit dem Rinnsal aus dem Mund des alten Mannes und tropfte auf den Boden. Ich. Und weiter: bin. Er schüttelte den Kopf. Dann hob er, ganz langsam, eine Hand und zeigte auf die Treppe. Über seinem linken Auge war es so dunkel wie das Tropfende, das aus seinem Mund kam.
    Siri sah die Stufen an. »Sind Sie gefallen?«, flüsterte sie.
    Der Umbrich sah sie mit dem rechten Auge an, während das linke die dunkle Flüssigkeit nicht wegblinzeln konnte. Er sah sie an, als suchte er die Antwort auf diese Frage bei Siri.
    Schließlich war da etwas wie ein Nicken.
    »Himmel«, flüsterte Siri. »Wie lange liegen Sie schon hier?«
    Sie hatte Angst, ihn anzufassen, aber sie musste es tun, sie griff unter seine Achseln und zog ihn hoch, und er gab einen unterdrückten Schmerzenslaut von sich.
    »War wohl … weg«, murmelte er und griff mit einer zittrigen Hand an seine Schläfe. Die Hand war voller Blut, das noch immer aus der Wunde über dem Auge zu sickern schien, die Wunde war feucht wie ein Sumpf, feucht wie etwas Vages, Unerklärtes.
    Siri kämpfte ihre Übelkeit gewaltsam nieder. »Sie brauchen einen Arzt«, sagte sie.
    Der Umbrich nickte. »Aber …«, flüsterte er.
    Sie beugte sich näher über ihn, um seine Worte zu verstehen. Jetzt waren da mehr Worte, sie bahnten sich einen Weg an dem Blut in seinem Mund vorbei und krochen in die Nacht wie kleine eilige, ängstliche Insekten. »… gerade erst in der Klinik«, wisperte er. »Wegen den Beinen. Ich will da nicht schon wieder hin. Ich will … nach Hause.«
    Dann schloss er die Augen und atmete wieder seinen pfeifenden Atem. Sammelte seine Kraft, um aufzustehen. Siris Augen hatten sich jetzt ans Halbdunkel gewöhnt, und sie sah, dass er den einen Arm offenbar nicht bewegen konnte.
    »Wie konnte das denn passieren?«, flüsterte sie. »Waren Sie im Dunkeln da oben, bei der Orgel? Sind Sie ausgerutscht? Oder war es noch hell und Sie haben nur so lange hier gelegen? Was …?« Sie verstummte.
    Der Umbrich antwortete nicht, er hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich aufs Atmen.
    Erst nach einer Weile

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