Friedhofskind (German Edition)
hatte in den großen Wandspiegel geblickt und sich vor sich selbst gefürchtet. Dieses ungelenke Wesen im Spiegel mit den zu dünnen Beinen und den groben, abgehackten Bewegungen – es hatte ihr Gesicht. Und auch das Gesicht war nicht hübsch, nicht niedlich, war zu schmal. Wie lächerlich sie ausgesehen hatte in dem rosafarbenen Tütü. Ihr Vater hatte bei der Tür gestanden und ihr zugelächelt, in jeder einzelnen Übungsstunde. Die anderen Mädchen hatten es nicht gewagt, offen über sie zu lachen, solange er da war, und das war vielleicht das Schlimmste gewesen.
Sie waren Mädchen wie sie, weiße Mädchen unter einer dunklen Sonne, europäische Mädchen in einem falschen Land. Wie viel hätte Siri darum gegeben, mit den dunklen Sonnenmädchen draußen im Staub zu spielen!
»Lächeln!« , sagte ihr Vater. »Du musst lächeln , wenn du tanzt!«
Da merkte Siri, dass sie träumte. Aber es gelang ihr nicht, aufzuwachen. Sie war gefangen in dem Traum, gefangen in ihrem ungelenken Kinderkörper. Die anderen waren so elegant, so grazil, so schön!
Und dann, ganz plötzlich, entdeckte sie eines zwischen den Mädchen, das so ungelenk war wie sie; ein Mädchen in einem goldgelben Kleid mit weißen Rüschen. Es tanzte auf sie zu, und sie sah, dass es kein Mädchen war; es hatte kurzes Haar und das Gesicht eines Jungen. Auf dem goldgelben Kleid zeichneten sich dunkle Flecken ab, Matschflecken.
Siri sah, wie die anderen Ballettmädchen das Nicht-Mädchen anstarrten. Das Nicht-Mädchen hatte blaue Lippen. Es zitterte. Es brauchte Wärme. Dringend, sonst würde es vor ihren Augen erfrieren.
Siri nahm es an der Hand, riss die Tür des klimatisierten Ballettraums auf, zog es durch einen Flur bis zur Außentür – das frierende blaulippige Aschenputtel. Dann traten sie gemeinsam hinaus in die brodelnde, modrig süßliche, rot gewürzte Luft.
In die Wärme.
Der Türsteher, schwarzlockig, dunkelhäutig, starrte sie mit der gleichen Verwirrung an wie die Ballettmädchen. Sie nickte ihm zu und lächelte. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie.
»Ja?«, flüsterte das Aschenputtel neben ihr, fragend, zweifelnd.
Ihre Gesichter waren jetzt ganz nah. Aschenputtel hatte auch Dreck auf den Wangen, Spritzer von Dreck und von etwas Getrocknetem, Dunklerem, Blut vielleicht.
»Ich muss dich etwas fragen«, flüsterte es. »Bitte, sag mir – gibt es Veranden? Wir haben uns das immer ausgemalt, dass jedes Haus hier eine große Veranda vor der Tür hat. Mit Schaukelstühlen. Wie die Veranda an dem blauen Haus auf dem Hügel, aber ohne Glas …«
Siri wollte antworten, doch in diesem Moment kam ihr Vater durch die Tür und zog sie zurück nach drinnen. Er wollte sie retten, so viel war ihr klar. Aber sie wusste nicht, wovor.
Das Letzte, was sie sah, ehe sich die Tür schloss, war das Gesicht des Aschenputtels im zerrissenen, schmutzigen Goldkleid. Sein Gesicht war wie eine vergebens ausgestreckte Hand.
Siri erwachte mit einem Ruck und setzte sich im Bett auf.
Ihr Nachthemd war nass geschwitzt, als wäre sie wirklich dort gewesen, dort in der Hitze. Schweißtropfen hatten sich auf ihren Wangen gebildet, einer lief hinunter, in ihren Mund, salzig wie Meerwasser. Oder wie Tränen.
Sie stand auf und zog sich leise an. Als wäre da jemand im Raum, den sie nicht wecken durfte, jemand, zu dem sie wieder unter die Decke schlüpfen konnte. Jemand, der schläfrig einen Arm um sie legen würde, wenn sie zurückkam. Sie legte eine Hand auf den Hörer des roten Telefons und blieb einen Moment so stehen.
»Ich muss diesen Traum loswerden«, flüsterte sie. »Ich werde spazieren gehen. Denk ein wenig an mich, ja? Aber mach dir keine Sorgen. Es ist nur ein Dorf.«
Die Straße war warm wie eine Straße im Sommer.
Und es würde bald Sommer sein, bald, bald …
Die Wärme hielt nur drei Schritte lang. Dann merkte Siri, dass es die Wärme aus ihrem Traum war, die sie getäuscht hatte, und sie zog den geblümten Regenmantel enger um sich. Sie hätte den Schal mitnehmen sollen; der Wind wehte scharf vom Meer herauf. Er brachte die Dunkelheit mit, die dort unter den Wellen schlief. Wie es sich wohl angefühlt hatte, dort unter den Wellen zu liegen, unendlich weit entfernt von Licht und Luft? Gar nicht, Siri, sagte sie sich selbst, denn wer dort liegt, fühlt nicht mehr.
Aber vielleicht war es ja eine große Ruhe, die man unter den Wellen fand, eine Ruhe jenseits von Träumen und goldgelben Kleidern.
Sie ging die Reihe der geduckten, schlafenden
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