Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Erwachsenen zu erforschen, ohne zu wissen, ob es das, dauerhaft, möchte. Und die Schatten waren stumm, und der Wind ging leise durch ein verwelktes Büschel Maiglöckchen.
    Friedhofskind.
    Um halb fünf Uhr morgens hatte das Sonnenlicht eine Aschenputtelfarbe, ein blasses Goldgelb. Das Schleierkraut auf den nebligen Wiesen war wie Rüschen.
    Siri hatte nicht geschlafen. Sie hatte den Rest der Nacht hellwach auf ihrem Bett gelegen, in der Hand eine ausgewickelte, aber unangetastete Tafel Schokolade, die längst geschmolzen war.
    In ihrem Kopf stapelten sich die Gedanken durchsichtig und scharfkantig wie Fensterstücke aus farbigem Glas. Sie wünschte, sie hätte auf weniger klare Art und Weise denken können, sie wünschte sich die weiche Watte einer leisen Betrunkenheit, die man gewöhnlich spürt, wenn man verliebt ist.
    Sie war nicht verliebt.
    Aber ein Teil von ihr hatte begonnen, etwas zu fühlen. Etwas, das mit Verliebtheit nichts zu tun hatte, sondern mit etwas viel Schlimmerem. Ein Teil von ihr hatte begonnen zu lieben.
    Sie wusste, dass sie diesen Teil loswerden musste, das wachsende Gefühl wieder abtöten, es mit Flusssäure wegätzen wie die Farbe aus Scheiben, es mit scharfen Glasschneidern und Messern entfernen wie ein ungewolltes Kind. Es würde wehtun.
    Dies passte nicht in ihren Plan. Sie war gekommen, um ihren Auftrag zu erfüllen, ihre Arbeit zu erledigen und wieder zu gehen. Ihr Leben war anderswo.
    Aber wenn sie die Augen schloss, fühlte sie den Stoff der alten, fleckigen Jacke noch immer unter den Händen. Ein vager Geruch von Erde und Pflanzen hing in ihrer Nase fest, ein guter Geruch: Sommer.
    Lenz hatte sie durch die niedrige Pforte hinten in der Friedhofsmauer hinausgelassen, weil sie nicht am vorderen Tor vorbeigehen wollte. Sie war sich nicht sicher, ob die Zigarette wirklich Einbildung gewesen war.
    Er hatte nichts gesagt, zum Abschied. Sie hatten beide geschwiegen.
    Und jetzt war es also Morgen, und das Sonnenlicht lag im Dorf herum und war ein Aschenputtelkleid.
    Siri steckte die Hände in die Manteltaschen, ging am Friedhof vorbei, wo niemand am Tor stand, und schließlich hinunter zum Hafen. Ein paar Kaninchen hoppelten vor ihr her und flohen dann in heller Panik ins Feld.
    Denk nicht mehr an diesen Kuss, denk nicht mehr an diesen Kuss, denk nicht mehr an diesen Kuss.
    Die drei Fischerboote lagen alle noch vertäut am Steg. Sie ging bis ganz vorne, zum Ende des Steges, wo man dem Horizont auch nur zehn Meter näher war. Im Schilf sangen die ersten kleinen Frühvögel. In den Spinnennetzen zwischen den Halmen hingen Tautropfen wie unnötige Anhäufungen von Swarowskikristallen.
    Schließlich ging sie langsam zurück, trat vom Steg auf die betonierte Rampe, über die die Boote ins Wasser gelassen oder herausgezogen werden konnten, betrachtete einen Moment das winzige Häuschen, auf dessen Schild das Wort »Hafenverwaltung« zu lesen war, auch wenn Siri noch nie jemanden gesehen hatte, der diesen sogenannten Hafen verwaltete. Die Lamellen des herabgelassenen Rollos hinter dem Fenster waren schief und an einigen Stellen gebrochen.
    Nichts an diesem Ort, in diesem Dorf, war auf irgendeine Weise heil und neu, alles war in Auflösung begriffen. Siri schüttelte den Kopf. Warum hatte sich der Kirchenverein der Insel in den Kopf gesetzt, ausgerechnet diese Kirche mit Fenstern von Siri Pechton auszustatten? Vielleicht würden drei oder vier Touristen mehr im Jahr herkommen. Sonst würde sich nichts ändern.
    In diesem Dorf würde sich nie etwas ändern.
    Sie wandte sich nach links, um den Weg zur Steilküste einzuschlagen, an den Datschen vorbei. Da sah sie, dass hinter dem Häuschen mit dem Schild »Hafenverwaltung« etwas im Schilf lag, nur ein paar Meter entfernt vom Ufer. Eine helle Plastikplane, aufgebläht von einer Luftblase, die sich darunter gefangen hatte. Am Tag zuvor war die Plane noch nicht da gewesen. Vielleicht gehörte sie zu einem der Fischerboote.
    Etwas an der Plane war verkehrt.
    Siri schüttelte den Kopf und sah genauer hin. Und schluckte. Und schluckte noch einmal.
    Dann watete sie ein paar Schritte ins Wasser hinein, zwischen die Schilfhalme. Sie fror jetzt wieder, wie nachts im dunklen Seewind.
    Das schmutzig Helle, Aufgeblähte besaß einen Kopf und zwei ausgebreitete Arme. Es war keine Plane. Was Siri zuerst gesehen hatte, war ein Rücken gewesen, nackt, blass, aufgedunsen. Das blaue Muster der Blutgefäße zeichnete sich deutlich unter der sich zersetzenden Haut ab.

Weitere Kostenlose Bücher