Friedhofskind (German Edition)
weg.«
Sie merkte, dass sie den Kopf schüttelte, während sie noch immer rückwärtsging. Nein, sie hatte sich die Worte eingebildet. Aber kamen da nicht Schritte näher, leise, über das Gras neben dem Weg? Da war sie wieder, die süße Verlockung der Panik, und Siri drehte sich um und rannte.
Sie rannte zur Tür der Kirche, zog an den alten Griffen der beiden Türflügel und begriff, dass die Kirche ihr keine Zuflucht bot. Die Kirche war verschlossen.
Aber sie war da, als dunkles Ding, das Siri zwischen sich und den Mann mit der Zigarette bringen konnte, und sie rannte weiter, um die Ecke, zwischen Gräbern hindurch, stolperte, rappelte sich auf – dann sah sie die Gestalt, die an der hinteren Mauer lehnte; die zweite dunkle Gestalt dieser Nacht, sehr vage und vielleicht eingebildet.
»Frau Pechten?«, flüsterte die Gestalt. »Siri?«
Es war Lenz. Und seine Stimme verriet nichts als Überraschung.
Sie dachte nicht weiter nach. Sie war mit ein paar Schritten bei ihm und tat etwas, das ihr beinahe selbst unbegreiflich war: Sie klammerte sich an ihn, presste sich gegen seine Jacke wie ein verschüchtertes Kind.
Er roch nach Erde und Blättern, nicht nach Zigaretten. Der Stoff seiner Jacke war kühl von der Nacht, aber der Arm, der sich um sie legte, war irgendwo unter dem Stoff warm und lebendig.
»Was …?«, begann er.
»Psst«, flüsterte sie. »Jemand ist hier. Jemand …«
Sie lauschte in die Dunkelheit und konnte fühlen, wie er mit ihr lauschte.
»Nein«, wisperte er. »Nur wir sind hier. Nur wir und eine Armee von Schatten.«
Und nach einer sehr langen Zeit, in der sie still stand und seinen Atem spürte, begann sie, ihm zu glauben. Vielleicht hatte sie sich alles eingebildet. Vielleicht hatte nie eine Zigarette beim Tor geglüht.
»Hast du keine Angst vor ihnen?«
»Vor den Schatten? Nein.« Er lachte leise, kaum hörbar. »Die, vor denen ich Angst habe, sind die Menschen.«
»Was tust du hier? Nachts?«
»Nachdenken«, antwortete er. »Und Sie?« Er wartete nicht auf ihre Antwort. »Sie sollten nach Hause gehen«, sagte er.
»Wir waren beim Du …«
»Du solltest jetzt nach Hause gehen.«
»Ja«, sagte Siri. Aber die Nacht war kalt und der Körper, der sie noch immer mit einem Arm festhielt, war warm, und draußen in der Dunkelheit wartete das Unheimliche, das Einbildung war oder auch nicht.
»Aschenputtel«, flüsterte sie. »Ich habe von Aschenputtel geträumt. Ich musste den Traum loswerden. Deshalb bin ich hinausgegangen. Frau Ammerland hat mir die Geschichte von Aschenputtel erzählt. Von dir und Aschenputtel. Von …«
»Ich glaube nicht, dass ich das hören will.«
»Ich … ich hatte auch mal ein gelbes Kleid an, mit Rüschen, zum Tanzen«, flüsterte sie. »Es war weit weg, in einem anderen Land, und es war furchtbar, weil ich nie schön darin war … sie haben gelacht, alle … ich wollte nur sagen, dass gelbe Kleider vielleicht Unglück bringen und …«
Sie brach ab.
Sie dachte an ihren Traum, in dem das Gesicht des kleinen Jungen im Kleid so nah an ihrem gewesen war. Ihre Nasen hatten sich im Traum beinahe berührt. Sie streckte ihre Hand aus, tastete, fühlte weiches Haar unter ihren Fingern und zog seinen Kopf zu sich herab, sachte. Vielleicht träumte sie; noch immer? Doch, ganz bestimmt. Ihre Finger strichen über nicht sehr frisch Rasiertes. Sie stand auf den Zehenspitzen. Und dann küsste sie ihn, in einer Mischung aus Verzweiflung, Angst und Wagemut.
Er küsste nicht besonders gut; er küsste wie ein kleiner Junge, der sich mit einem kleinen Mädchen in einem Gebüsch versteckt hat und nicht sicher ist, was er da tut. Siri fuhr mit ihrer Zunge zwischen seine Lippen und versuchte, ihm klarzumachen, dass er den Mund öffnen musste. Sie fühlte sich, als würde sie versuchen, einen Minderjährigen zu verführen. Und das war wirklich absurd, er war älter als sie, oder nicht? Du hast eine Zunge, begreifst du, Lenz? Du brauchst sie zum Küssen, es geht nicht ohne. Und endlich verstand er. Da hörte die Kälte auf, kalt zu sein, und Siri dachte sehr kurz an das rote Telefon und an die Wohnung zu Hause in dem Berliner Vorort und an ihren Vater und an den blauen Wirbel eines Kleides und dann an nichts mehr. Das, was Lenz jetzt tat, war sehr vorsichtig und sehr zögernd und sehr, sehr freundlich.
Ist es das? , fragte er, lautlos, nur mit seiner wiedergefundenen Zunge. Ist es das, was du von mir erwartest?
Ja, er war wie ein Kind, das beginnt, die Welt der
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