Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Häuser hinunter, die den Kern des Dorfs bildeten, die ungeteerte Straße entlang. Sie musste sich müde wandern, dann würde sie zurückkehren zu Frau Hartwigs Ferienwohnung und hoffentlich endlich schlafen, traumlos diesmal.
    Es gelang ihr nicht, den Gedanken an ihren Vater abzuschütteln.
    Beinahe war es, als gingen seine großen, breiten Schritte neben ihr durch die Nacht.
    Aber ihr Vater wusste nicht einmal, dass sie hier war. Sie hatte ihm nichts gesagt.
    Später, wenn sie diesen eigentlich unmöglichen Auftrag erledigt hatte – später würde sie ihm davon erzählen. Mit einem Lachen auf den Lippen. Weißt du, manchmal hatte ich Angst in diesem Dorf, aber ich habe es geschafft … Und er würde stolz auf sie sein.
    Sie blieb stehen. War das nicht ein Stück von einem blauen Kleid, dort, wo die Straße vor ihr eine Biegung machte? Siri ging schneller.
    »Warte doch!«, flüsterte sie. »Warte!«
    Ein Kaninchen hoppelte über den Weg. Das Blaue tauchte wieder auf, und jetzt rannte Siri.
    Sie sah jetzt nicht nur das Blau, sie sah das ganze Mädchen: Iris. Iris Weiß.
    Sie sah die laufenden Kinderbeine und die langen hellen Mondlocken, sie sah die Hände, die Iris im Rennen zu Fäusten ballte, und dann, ganz plötzlich, sah sie Iris stehen bleiben. Sie drehte sich zu Siri um, hob den Arm und winkte, und dann bog sie nach links ab und war fort.
    Erst als Siri an der Stelle angekommen war, wo sie verschwunden war, merkte sie, dass es das Tor des Friedhofs war, durch das sie verschwunden war.
    Siri zog den Riegel zurück und stieß das Tor auf. Es quietschte in der Nacht.
    »Du bist verrückt«, flüsterte sie. »Du willst nicht wirklich nachts auf einem Friedhof spazieren gehen, Siri. Geh zurück!«
    Doch sie gehorchte sich nicht. Sie trat durch das Tor.
    Der Friedhof war still. Sehr still.
    Das Rascheln der nächtlichen Tiere in Sträuchern und Gras machte die Stille nur noch stiller. Hier also lagen sie alle, auch nachts, und schliefen. Warteten sie auf das Friedhofskind?
    Die Toten?
    »Iris?«, flüsterte Siri. »Iris? Wo bist du?«
    Natürlich erhielt sie keine Antwort.
    Schließlich ging sie mit sehr kleinen, sehr zögernden Schritten zwischen den Gräbern entlang, auf die Kirche zu, die schwarz und steinern inmitten der Schlafenden aufragte. Es war jenseits jeder Vernunft, aber es war auch, als riefe die Kirche sie. Komm, komm , wisperten die steinernen Mauern. Irgendwo in mir liegt eine Antwort auf alle Fragen. Ich weiß, warum die Fenster alle an einem Tag herausgesprungen sind. Ich weiß, was mit Iris geschehen ist. Ich weiß, was mit dir geschehen wird.
    Das war natürlich großer Unsinn, die Kirche wisperte gar nichts, sie stand einfach da. Und der Friedhof war nur ein Friedhof.
    Aber dann glaubte Siri, jemanden hinter sich flüstern zu hören, und sie blieb ganz steif stehen. Sie drehte sich langsam um, doch im Mondwolkenlicht war wenig zu erkennen. Da waren wippende Rosenranken, da war Wind im Gras, und da war der Schatten des Tores, das auf einmal aussah wie das Gitter eines Gefängnisses.
    Dort, neben dem Gitter, schwebte ein heller Glutpunkt in der Luft. Siri wurde eiskalt.
    Jemand war dort, jemand stand am Tor, sie konnte nicht zurück, ohne an der Gestalt vorbeizugehen. Es war kein Geist, es war jemand, der rauchte und der sie offenbar beobachtete. Und alles, was passieren konnte, war irdisch, ungeisterhaft, real.
    Mach dir keine Sorgen, hatte sie gesagt, dies ist nur ein Dorf. Haha.
    Denk jetzt, Siri, denk schnell! Wer von ihnen raucht? Sie rauchen alle, mehr oder weniger, alle bis auf Lenz, das Friedhofskind; Kinder rauchen nicht. Es kann jeder von ihnen sein, irgendwer ist dir gefolgt, oder ist es ein Zufall? Ein Zufall, den jemand ausnützen wird?
    Sie merkte, dass sie zitterte; ihre Hände zitterten in den Taschen des geblümten Mantels. Die Glut am Friedhofstor verlosch beinahe, wurde wieder heller – jemand zog an der Zigarette. Jemand wartete, jemand hatte keine Eile. Sie würde ja doch zu ihm zurückkommen müssen, um den Friedhof zu verlassen. Und wenn sie es nicht tat, würde er zu ihr kommen.
    Und wenn sie schrie, würde niemand sie hören. Und wenn jemand sie hörte, würde dieser Jemand sein sicheres, geducktes, misstrauisches Haus nicht verlassen, um ihr zu helfen.
    Sie begann, rückwärtszugehen, ganz langsam, weiter auf die Kirche zu. Das Glühen fiel zu Boden. Erlosch. Jemand hatte die Zigarette ausgetreten.
    Waren dort Worte in der Nacht?
    »Hey. Hey, warte. Lauf doch nicht

Weitere Kostenlose Bücher