Friedhofskind (German Edition)
erzählt, dass sie Iris gefunden haben? Ich meine: Habe ich erst danach aufgehört, zu reden? Oder war ich schon seltsam, als du hereinkamst?«
»Junge«, sagte Winfried, »du warst immer seltsam. Immer. Seit sie dich aus dem Schneesturm gepflückt haben. Seit du da in deinem umgekippten Kinderwagen lagst mit deinen vier Monaten und deinen grauen Augen. Die waren ja nie blau, hat Lotte gesagt, nicht so wie bei anderen Kindern … Aber wenn du’s wissen willst: Du warst schon komisch, wie ich zur Tür rein bin an dem Morgen. Standst da am Küchenfenster, und ich dachte noch: Der weiß es schon. Sie ist schon angekommen, die Kleine, im privaten Reich seiner Toten, sie hat sich schon bei ihm gemeldet, deshalb weiß er’s.«
»Winfried … glaubst du das? Dass ich mit den Toten spreche?«
»Junge, es ist mir völlig egal. Du kannst reden, mit wem du willst. Die Ammerland, die wollte dich immer ändern, und ich hab ihr gesagt: Vergiss es. Der Junge ist der Junge, und der bleibt so.«
»Winfried … was war mit dem Boot? Wo ist es?«
»Keine Ahnung. War ja sowieso nicht bewiesen, aber die meisten haben eben gesagt, sie muss mit dem Boot raus sein. Und dass der Sturm sie überrascht hat. Schwimmen konnte sie, aber in einem Sturm ist es egal, ob du schwimmen kannst. Gerade im Oktober, wenn das Wasser schon kalt ist.«
»Warum hat sie das getan, Winfried? Warum ist sie mit dem Boot hinausgerudert? Wenn sie zurückgekommen ist, ins Dorf, warum ist sie nicht zu uns gekommen?«
»Junge. Ich weiß es nicht.«
»Sie behauptet, sie würde sich nicht erinnern. Ich … ich spreche mit ihr. Von Frühjahr bis Herbst. Im Winter verschwindet sie. Aber das weißt du.«
»Frau Ammerland hat mal so was erzählt. Mir egal, wie gesagt. Du bist, was du bist. Gibt keinen Weg da raus.«
»Nein«, sagte Lenz leise. Und, nach einer Weile: »Ich liebe sie. Ich dachte, es wäre für … für den Rest der Zeit.«
Winfried lachte scheppernd auf. »Du? Liebst? Junge, was weißt du schon von der Liebe! Du warst acht. Du bist acht. Immer noch. Guck dich doch an! Man hört, dass du Schiffchen baust, unten am Wasser. Dass du auf Mauern balancierst und auf Bäume kletterst. Liebe – ha. Komm mir nicht damit.«
»Aber du«, sagte Lenz bitter, »du weißt so viel darüber, ja? Du hattest nie eine Frau.«
»Ich war nie verheiratet. Aber ich habe geliebt.«
»Wo ist sie jetzt? Die, die du geliebt hast?«
»Ich bin müde«, sagte Winfried. »Bring mich zurück nach Hause.«
»Nein«, sagte Lenz. »Antworte mir. Du wolltest herkommen, jetzt sind wir hier. Jetzt wird geantwortet.«
»Du bist … du bist ein verfluchtes grausames Arschloch.«
»Natürlich«, sagte Lenz. »Wir sind grausam zueinander. Immer gewesen. Ich hasse dich.«
»Tu das«, antwortete Winfried und lachte sein trockenes Lachen. »Hass ihn ruhig, den Mann, der dich großgezogen hat. Alle Kinder hassen ihre Erzieher, ob sie Eltern heißen oder sonst wie. Hass hält die Welt am Leben. Ich hasse auch, mein Junge, ich hasse die Tage und die Nächte, jede Minute, ich hasse das Leben. Ich weiß gar nicht, was ich hassen werde, wenn es vorbei ist, dann habe ich nichts mehr zum Verabscheuen, wird seltsam sein … aber dann fressen mich ja auch die Maden.«
»Glaubst du nicht, dass du sie wiedersiehst? Die Menschen, die hier liegen? Jens? Und Lotte?«
»Ich seh niemanden wieder. Ha, ich bin blind! Und sie werden mich blind verscharren. Du wirst mich verscharren. Es gibt nichts nach dem Tod. Und bild dir nicht ein, Junge, dass ich zurückkomme, um mit dir zu reden. Ich nicht. Ich pfeif im Übrigen auch drauf, einen wie Jens wiederzusehen, reiner Zufall, dass wir verwandt waren. Brüder, na ja. Was für ein Angsthase, was für ein Weichei. Ich hab ihm nicht nachgeweint, als er sein Moped um den Baum gewickelt hat in dem Winter. Er hätte sich schlechter um dich gekümmert als ich, war völlig hilflos, nachdem Lotte im Schneesturm geblieben ist. Und er war schuld. Sie haben sich gestritten, deshalb ist sie weg. Am Weihnachtsabend. Anfang Januar hat er den Unfall gehabt. Die Straße war glatt. Ha, glatte Straßen, das kannst du mir nicht erzählen. Der Lotte nach ist er, konnte ohne sie nicht. So. Und jetzt, Junge, ist Ende mit den Wahrheiten.«
Sie schwiegen eine Weile.
Schließlich sagte Lenz: »Winfried?«
»Hm?«
»Vielleicht … war es gelogen. Dass ich dich hasse.«
»Es wäre besser wahr«, knurrte Winfried. »Denn ich mach’s nicht mehr lang, und heulen steht dir
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