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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nicht, glaube ich.«
    »Winfried … kann man denn noch einmal lieben?«
    »Nein«, sagte Winfried sofort. »Man kann sich vielleicht noch einmal ver lieben, aber lieben – lieben kann man nur einmal. Das Gegenteil muss mir erst einer beweisen.«
    »Ich werde es versuchen«, flüsterte Lenz. »Aber da ist ein rotes Telefon, und ich glaube, das ist keine gute Voraussetzung.«
    Siri schnappte nach Luft, als er das sagte, und presste sich ganz dicht an die harte Steinwand. Ein rotes Telefon.
    So stand sie, bis sie die beiden gehen hörte, wobei gehen das falsche Wort war; was sie hörte, war das Schimpfen und Stöhnen des alten Fuhrmann und das leise Fluchen von Lenz, der ihm half. Ihre Stimmen waren sehr ähnlich.
    Sie wagte erst, ihnen nachzusehen, als sie das Friedhofstor quietschen hörte. Der alte Fuhrmann hatte einen Arm um Lenz’ Schultern gelegt, und Lenz hatte ihn um die Hüfte gefasst, und so humpelten sie durch das Tor wie in einem abstrusen Tanz – der alte und der junge Totengräber.
    Unglückskinder.
    Aber sie hatten geliebt.
    Habe ich jemals geliebt?, dachte Siri. Wirklich geliebt? Eine Weile stand sie zwischen den Blumen, die Lenz Fuhrmann mit seinen riesigen Händen gepflanzt hatte. Eine Million Blumen für die Toten. In wie vielen Gräbern lagen Menschen, die geliebt hatten?
    Die Bank neben dem Friedhofstor war grün. Gewesen. Sie blätterte ab, Lenz würde sie streichen müssen. Siri setzte sich einen Moment auf diese Bank, um ihre Gedanken zu ordnen, aber alles, was sie vor sich sah, war Lenz Fuhrmann, der eine Bank strich.
    Hinter dem Tor, auf der Straße, stritten Kinder, eine Mutter schimpfte: die hysterische Mutter mit dem Trampolin. Eine zweite Frauenstimme gesellte sich dazu: die Frau mit dem Tapirhund. Sie sprachen über irgendetwas und ließen die Kinder streiten, rauchten zusammen, verglichen ihre frisch gefärbten Haarsträhnen.
    Siri lächelte. Sie dachte an das Bild der Tapirhundefrau und des Tapirhundemannes an der Steilküste, zwei merkwürdige Gestalten auf einem offensichtlich romantischen Spaziergang.
    Hatten die Tapirhunde dieselbe Bedeutung wie Eheringe? Siri stellte sich den Pfarrer vor, wie er feierlich sagte: Sie dürfen jetzt die Hunde tauschen.
    Siri fragte sich, ob alle diese Leute auf ihre Art zufrieden waren. Vermutlich. Sie rauchten, sie färbten sich die Haare, sie führten Hunde spazieren und schimpften mit Kindern, und damit war ihr Leben ausgefüllt. Sie kauften beim Konsum-auf-Rädern ein, sie fuhren manchmal mit dem Auto in die Stadt, um in die Disco zu gehen; sie waren nie in der Welt draußen gewesen und hatten die Welt gar nicht nötig.
    Beinahe konnte man sie beneiden.
    Siri holte eine Tafel schwarzer Schokolade aus der Tasche, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Als sie die Augen wieder öffnete, saß jemand neben ihr.
    Die alte Dame aus dem blauen Haus auf dem Hügel. Frau Ammerland. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah den blühenden Friedhof an, als sehe sie aufs Meer hinaus.
    »Sind Sie immer noch auf der Jagd nach Bildern?«, fragte sie beiläufig.
    Siri nickte. »Zwei fehlen mir noch. Aber ich fange mit denen an, die ich habe. Die bunten Gläser sind schon bestellt.«
    »Schön«, sagte Frau Ammerland, und dann eine Weile nichts. Ein paar Kaninchen hoppelten über die Wiese. Über den Himmel flog ein Schwarm weißer Tauben. Eine von ihnen landete auf einem Haselstrauch neben dem Grabstein mit dem Namen »Carla Berg«. Carla Berg.
    »Ein Haselstrauch und ein weißer Vogel«, sagte Siri und lachte leise. »Wie bei Aschenputtel.«
    »Es sind Kaminskis Tauben«, sagte Frau Ammerland. »Er züchtet.«
    »Kaminski … von der Kfz-Werkstatt … züchtet weiße Tauben ? Im Ernst?«
    Frau Ammerland zuckte die Schultern. »Hat wohl eine geheime romantische Ader. Aber mit Aschenputtel haben Sie natürlich recht. Sie sind der einzige andere Mensch, der bei weißen Tauben an Aschenputtel denkt.«
    »Der einzige Mensch … außer Ihnen?«
    »Nein. Außer dem Friedhofskind.«
    »Lenz.«
    »Ja. Er hat das Märchen immer geliebt. Es war meine Schuld, nehme ich an, ich hatte ihm das Buch geschenkt …« Sie verstummte.
    »Ihre Schuld?«, fragte Siri. »Was … ist denn passiert?«
    Frau Ammerland seufzte. »Das Bild in dem Buch war wirklich schön: Aschenputtel, die beim dem Haselstrauch am Grab ihrer Mutter sitzt, und auf dem Strauch sitzt ein weißer Vogel, der zaubern kann. Später wirft er ihr das Ballkleid und die Schuhe

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