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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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herab … Lenz hat auch einen Haselstrauch gepflanzt. Auf Lottes Grab. Und die Tauben haben ihm den Gefallen getan, ab und zu darauf zu landen. Früher war das Grab seiner Mutter dort, neben dem Grab von der Berg … eine Weile lagen sie da in einer Reihe, Lotte, Jens und Carla Berg, Jens kam mir immer ein wenig eingekesselt vor zwischen den beiden Frauen …« Sie schüttelte den Kopf. »Er saß stundenlang bei seinem Haselstrauch. Lenz, meine ich. Ich glaube, er hat gehofft, es würde passieren. Eine der Tauben würde zaubern. Irgendetwas herabwerfen. Vielleicht das Glück. Es ist nicht passiert. Unglückskinder bleiben Unglückskinder. Sie haben das Märchen als Stück aufgeführt, in der zweiten Klasse. Er wollte unbedingt Aschenputtel spielen, Aschenputtel in Lumpen und Aschenputtel in ihrem Ballkleid. Und seine verdammte Lehrerin hat ihn gelassen.«
    »Und dann?«
    »Sie können sich vorstellen, was die Jungs gesagt haben. Vor allem die älteren. Die im Bus. Er hat das Kleid nach der letzten Probe mit nach Hause gebracht, um seine Rolle zu üben. Die Haltestelle … Sie erinnern sich an die Haltestelle … ich konnte nicht immer da sein, um ihn abzuholen. Sie haben ihn gezwungen, sich komplett auszuziehen und das Kleid anzuziehen, einer von ihnen hat es später zugegeben. Es war Februar, wir hatten minus zwanzig Grad. Ich weiß nicht mal, was sie mit den Sachen gemacht haben. Als man ihn fand, später, war der dünne goldgelbe Stoff voller dunkler Flecken, und die Rüschen waren zerrissen. Sie müssen ihn in eine Pfütze gestoßen haben oder was weiß ich? Er stand da, nur in dem Kleid, in nichts sonst, nicht einmal Unterwäsche, mitten auf der Straße, ein paar Kilometer entfernt vom Dorf. Kein Mensch weiß, wohin er wollte. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Der alte Kaminski, der damals noch jung war, hat ihn nach Hause gebracht. Und die Lehrerin hat geschimpft, wegen des Kleides. Das war das Ende von Aschenputtel. Lenz hat zwei Wochen im Bett gelegen und gefiebert. Und eine Weile nicht geredet, ich glaube, das war das erste Mal, dass er nicht geredet hat … wir haben später nie darüber gesprochen, was genau passiert war. Vielleicht war es keine Pfütze.«
    Pfützen, dachte Siri, sind bei minus zwanzig Grad gefroren.
    Die Tauben kamen wieder, um auf der Friedhofsmauer zu landen, rein und weiß.
    »Und dann gab es diesen Unfall«, sagte Frau Ammerland. »Die Leute haben die Verbindung erst viel später gezogen. Es war ein Jahr nach der Sache mit Aschenputtel, und Lenz war an dem Tag nicht im Bus. Die Reifen verloren auf einem vereisten Stück Straße den Halt, und der Bus fuhr gegen einen der Alleebäume. Zwei der Jungen, die bei Aschenputtel dabei waren, waren lange im Krankenhaus. Einer hat es nicht überlebt.«
    Sie strich ihren Rock glatt und stand auf.
    »Warten Sie!«, sagte Siri. »Ich … glauben Sie das? Dass es eine Verbindung gibt?«
    »Es kann natürlich Zufall sein«, sagte Frau Ammerland. »Aber es ist nicht abzustreiten, dass allen, die das Friedhofskind verletzen, etwas zustößt.«
    »Und – Iris?« Siri sprang auf. »Was hat Iris getan, um ihn zu verletzen?«
    »Sie ist weggegangen.«
    »Ich dachte, sie ist zurückgekommen.«
    Frau Ammerland strich mit dem Finger eine der kleinen weißen Rosenknospen an der Mauer entlang, die noch nicht aufgeblüht waren. Dann sah sie Siri an, ehe sie sich zum Gehen wandte. Sie sah sie sehr genau an.
    »Ist sie das?«

8
    Das rote Telefon schien Siri anzustarren, als sie an diesem Abend die Schablone und Skizzenblätter beiseitelegte. Sie seufzte und wählte. Und erzählte dem Telefon mit vielen Worten … nichts. Sie erzählte nicht, was sie auf dem Friedhof gehört hatte, sie erzählte nicht, was sie gedacht hatte, und nichts von Aschenputtel.
    »Ich vermisse dich«, sagte sie in den roten Hörer. »Es ist eine lange Zeit. Gießt du die Blumen?«
    Und dann lag sie im Bett und konnte nicht schlafen.
    Und dachte, seit Langem zum ersten Mal, an ihren Vater.
    Alle Kinder hassen ihre Erzieher, ob sie Eltern heißen oder sonst wie.
    Als sie die Augen schloss, sah sie ihn vor dem grellen Himmel eines anderen Landes. »Du wirst schön sein«, hatte er gesagt, »so schön sein wie sie … wenn du dich nur ein wenig anstrengst, wirst du schön sein und tanzen. Schau, die Mädchen warten alle. Sie freuen sich auf dich!«
    Sie war sieben Jahre alt gewesen und verschüchtert. Und die Mädchen hatten hinter vorgehaltener Hand über sie gekichert. Siri

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