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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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die Lebenden und die Toten!«
    Der Schnaps brannte in Siris Kehle. Um sie herum wurden die Gesichter röter und die Geschichten, die über den Tisch schwirrten, hitziger. Sie sah, dass jemand Winfried an den Tisch geholt oder er sich selbst herübergeschleppt hatte, jedenfalls saß er da, in seinem knopfglänzenden Jackett, und trank mit ihnen. Die beiden Frauen, die mit Aljoscha verwandt waren, verschwanden irgendwann, und auch der Pfarrer war fort, als Siri sich nach ihm umsah. Frau Ammerland war vielleicht nie da gewesen, sie erinnerte sich nicht, sie am Tisch gesehen zu haben.
    Der Umbrich goss Siri nach. Sie war eingeklemmt in diesem Gewirr aus Stimmen, sie versuchte, einzelne Gesprächsfetzen aufzuschnappen und herauszufinden, ob sie etwas mit ihnen anfangen konnte, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte den Schnaps im Blut. Die bewegten Schatten der Äste, die auf Gläser und Tischtuch fielen, verwirrten sie jetzt, die Stimmen der beiden Geschwister, die irgendwo unter dem Tisch verstecken spielten, waren nicht eindeutig zu orten, Papierservietten flatterten über den Tisch wie weiße Tauben.
    »So, und nun rückt mal ein bisschen«, hörte sie Frau Henning sagen. »Das Friedhofskind soll sich endlich zu uns setzen. Holt ihn doch mal her.«
    »Es ist kein Platz mehr am Tisch«, sagte Kaminski, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Und ich bin ein anständiger Mensch. Ich sitz mit keinem Mörder am Tisch.«
    »Halt den Mund«, sagte Werter knapp. »Aljoscha war betrunken. Das war alles.«
    »Betrunken war er vielleicht schon«, flüsterte Karin. »Aber jemand hat ihn gelockt.«
    »Ins Wasser gelockt«, wiederholte Frau Henning. »Jemand hat ihn gerufen.«
    »Ach, Unsinn, warum sollte er ins Wasser gehen, wenn das Friedhofskind ihn ruft?«, sagte der Mann mit dem Tapirhund.
    »Er hat ihn vermutlich nicht selbst gelockt«, sagte irgendwer. »Das war einer von denen, die er begraben hat.«
    »Einen Grund hatte er jedenfalls«, flüsterte Frau Hartwig. »Aljoscha wusste irgendwas … über damals …«
    »Wir rücken jetzt alle«, sagte der Umbrich und nickte den anderen bedeutungsvoll zu. » Ich will nicht morgen da draußen im Wasser liegen und übermorgen unter der Erde.«
    Er schob seinen Klappstuhl zurück und ging zu Aljoschas frischem Grab hinüber, wo Lenz sich die Erde von den Knien klopfte. Siri sah, wie der Umbrich Lenz am Arm nahm, es wirkte grotesk, weil er so viel kleiner war als Lenz. Lenz ließ sich zum Tisch hinüberführen, widerstrebend. Kaminski saß noch immer mit verschränkten Armen da und starrte vor sich hin.
    Der Umbrich goss Lenz ein Glas Schnaps ein. Seine Finger zitterten leicht.
    »Auf Aljoscha!«, rief Frau Henning.
    »Auf Aljoscha!«, riefen alle.
    Und Lenz sah sie an, der Reihe nach, und in seinem Blick stand etwas wie Verachtung. Dann hob er das Glas und trank. Er trank es in einem Zug leer, stellte es ab und setzte sich auf den Stuhl, auf den Herr Umbrich deutete. Sie redeten jetzt weiter, redeten wieder durcheinander, aber auf eine irgendwie vorsichtigere Art als zuvor. Siri versuchte, Lenz’ Blick noch einmal aufzufangen, sie wollte einen Blick nur für sich, einen, in dem keine Verachtung lag. Aber warum, dachte sie, sollte mir so ein Blick überhaupt zustehen? Ich bin jetzt, in diesem Augenblick, eine von ihnen, von den Leuten, ich sitze in ihrer Mitte und esse ihren Kuchen und trinke ihren Schnaps.
    Sie sah ihn das Glas heben, trinken, stumm.
    Und dann geschah etwas Merkwürdiges.
    Ein Kaninchen kam über den Rasen gerannt, im Zickzack, blieb sitzen und starrte die Kuchen-Schnaps-Gesellschaft an. Es war ein schwarzes Kaninchen mit einem weißen Fleck ums rechte Auge.
    »Na, wollen wir mal sehen, wem du jetzt gehörst, was«, sagte Kaminski. Er stand auf und ging ganz langsam auf das Kaninchen zu, und die wenigsten bemerkten überhaupt, dass er das tat, sie waren zu beschäftigt mit ihren eigenen Gesprächen. Nur Siri und Werter folgten Kaminskis Bewegungen mit den Augen. Er streckte die Arme aus, ging leicht in die Hocke und spreizte die Finger. »Komm, mein Schönes!«, lockte er. »Ich hätte einen Platz frei für dich in unserer Pfanne!«
    Und Siri begriff oder glaubte zu begreifen, dass dieses Kaninchen der Ersatz war. Der Ersatz für Lenz. Kaminski war noch immer wütend, dass die anderen Lenz an den Tisch geholt hatten, aber er konnte nichts dagegen tun.
    Er trat noch einen Schritt auf das Kaninchen zu. Es sah ihn an, aufmerksam, aber nicht scheu. Und dann

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