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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Jackett im Schrank, das ich bei Carlas Beerdigung anhatte, das schwarze mit den goldenen Knöpfen.«
    »Sie waren nie golden«, murmelte Lenz. »Nichts in deinem Leben war golden, Winfried.« Aber er sagte es nicht laut.
    Lenz sah Siri nicht in den Tagen bis zur Beerdigung.
    Er hob die Grube am Morgen aus, allein. Aber er wusste, dass eine Menge Augenpaare ihn beobachteten, von jenseits des Tores, jenseits der Mauer, jenseits. Der Spaten stach tief ins dunkle Erdreich, er trat mit dem Stiefel darauf und zerstach Gras und Wurzeln mit der scharfen Kante, hörte die lebende Masse der Pflanzen unter dem Spaten reißen und zuckte zusammen bei dem Geräusch. Es war eine Zerstörung in kleinstem Ausmaß, eine erlaubte Zerstörung, und gerade das ließ ihn schaudern. Wer bestimmte denn, welche Zerstörungen erlaubt und welche verboten waren?
    Dieleute, natürlich, immer Dieleute. Aber wer gab ihnen die Autorität?
    Warum war es weniger schlimm, die Wurzeln unschuldiger Gräser und Blumen zu zerquetschen, das Leben von Käfern und Würmern zu beenden als das eines Mannes, der seine Fische im Eimer verenden lassen und Kaninchen mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen hatte, um sie zu töten? Sie alle, alle, die hier lagen, waren schuldig an diesem oder jenem, es gab keinen, der nicht schuldig war. Nicht einmal Lotte, vermutlich. Nicht einmal Carla.
    Dies war das Letzte Gericht, die letzte Verurteilung, die Strafe eine ewige: Die, die er unter die Erde brachte, würden für immer unter der Erde bleiben. Es gab kein Entkommen und kein Zurück. Kein Leben nach dem Tod, kein Paradies, nicht einmal die Feuer einer Hölle.
    Das ewige Nichts, die ewige Stille in dunkler Erde, erschien ihm schlimmer. Ewig hier zu bleiben, hier im Dorf, nie mehr die Chance zu haben, es zu verlassen … wenn er den Boden über ihnen festtrat, war es, als besiegelte er ihre Strafe dafür, gelebt zu haben. Natürlich gab es Ausnahmen. Iris … Iris war zurückgekommen. Vielleicht kamen die Unschuldigen zurück.
    †   †   †
    Siri hatte nicht zur Beerdigung kommen wollen.
    »Ich wünschte, du wärst hier«, hatte sie in den roten Telefonhörer gesagt. »Ja, ich weiß, ich habe gesagt, du sollst nicht kommen, aber jetzt wünschte ich, du wärst hier. Ich mag keine Beerdigungen, sie sind eine so triste schwärzliche Angelegenheit. Ja, natürlich wäre eine Beerdigung praktisch, um die Leute wegen dieser Sache zu fragen, von der Kaminski erzählt hat. Diese Frau, Frau Berg. Aber ich will die Leute gar nicht fragen, und ich will auch nicht an einem Grab herumstehen und über den Tod nachdenken …«
    Und dann stand sie am offenen Friedhofstor und lächelte auf einmal.
    Der Friedhof war wieder ein Garten, er war schön heute, schön wie ein Friedhof in einem Film, in dem eine Beerdigung vorkommt. Unter den Bäumen im Gras hatte man mehrere lange Tische aufgestellt, die hellen Tischtücher wehten im Wind, und darauf standen Teller mit Kuchen und belegten Broten bereit. Frau Henning und Frau Hartwig liefen herum und ordneten letzte Dinge, die geordnet werden mussten. Frau Henning besaß eine neue Jacke, eine helle Daunenjacke mit aufgedruckten farbigen Flecken, die vielleicht Blumen sein sollten. Ein wenig sah die Jacke aus wie ein Sofabezug.
    »Ich gestehe es«, sagte Frau Henning zu Siri, als sie einmal mit einer Kuchenplatte vorbeieilte und ihren Blick auffing, »ich habe Ihnen den nachgekauft. Den Mantel. War ein Sonderangebot in der Stadt, bei der Kaufhalle, und ich konnt nicht dran vorbeigehen. Bringt so ein schönes Licht ins Dorf, Ihr Mantel, dacht ich …«
    »Ja«, sagte Siri höflich. »Steht Ihnen. Sieht … genauso aus wie meiner.«
    Die Jacke sah überhaupt nicht aus wie ihr Mantel. Höchstens vielleicht von sehr weit weg im Nebel.
    Papierservietten flogen über den Friedhof, wurden eingesammelt und mit kleinen Steinen beschwert. Eine andere Frau der Kuchenfraktion stellte einen Blumenstrauß zwischen die Kuchenteller. Der Umbrich stritt mit Frau Henning über irgendetwas. Die Frau mit den beiden Kindern – Karin? Hieß sie so? – stand bei der Frau mit dem Tapirhund und rauchte, während die Kinder und der Tapirhund versuchten, zu entkommen. Der Mann, der den anderen Tapirhund an der Leine hielt, rauchte mit Kaminski, der einen Anzug trug. Der Friedhof blühte bunter als je zuvor. Der Sommer ersetzte den Frühling nach und nach. Eine Handvoll Kaninchen hoppelte über die Wiese.
    »Une partie à la campagne« , sagte jemand neben ihr.

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