Friedhofskind (German Edition)
sie leise. »Wenn du mit dieser Frau gehst … wenn du anfängst, Dinge zu verändern … werde ich irgendwann fort sein.«
»Unsinn«, sagte er. Aber er folgte ihr zur Hintertür im Maschendrahtzaun. Und später gab es Momente, in denen er dachte, dass alles natürlich anders gekommen wäre, wäre er nie durch diese Tür gegangen. Dass die Dinge an diesem Punkt angefangen hatten, wirklich schiefzugehen. Aber natürlich hatten sie schon vorher begonnen, schiefzugehen; vor zweiunddreißig Jahren, in einem Unwetter unweit der Küste. Oder vielleicht noch früher, vor einundvierzig Jahren, in einem Schneesturm. Das Unglück ist wie ein Hund: Wem es sich einmal an die Fersen geheftet hat, dem folgt es treu.
Die Tür im Maschendrahtzaun stand tatsächlich offen, sie sah grotesk aus in dem überdimensionierten Zaun, wie die Hintertür zu einem Tennisplatz. Der Vater der beiden Kinder, der so oft auf Montage war, hatte alles getan, um seine Familie in dieser Zeit zu schützen; es gab nichts an Wert in seinem Haus, aber alles, was er besaß – die Frau, die Kinder, der alte Rasenmäher in der Garage –, war sorgsam verwahrt.
Iris zog Lenz an der Hand in den Garten und auf das Trampolin, das ebenfalls mit einem hohen Sicherheitsnetz umgeben war. Dann kletterte sie auf seine Schultern, und er stieg auf die wackelige Membran. Im Haus brannte kein Licht. Nur der Mond beleuchtete ihren auf und ab springenden Doppelschatten. Iris lachte hell auf Lenz’ Schultern.
»Das ist genau so, wie ich dachte!«, rief sie. »Nein, noch besser! Höher! Höher!«
»Sch, sch«, machte er, doch sie lachte noch lauter; übermütig.
»Sie hören mich nicht, Lenz. Nur du kannst mich hören. Höher!«
»Und wenn du …«, keuchte er, »wenn du … fällst? Du warst immer schon … zu wagemutig. Genau wie damals … damals mit dem Boot … ich … habe dir gesagt … dass der Plan Unsinn ist …«
Er blieb stehen, auf dem Trampolin wippend, Iris’ Knöchel mit den Händen umfassend.
»Moment«, sagte Iris. »Hast du nicht gesagt, du erinnerst dich nicht?«
»Nein. Nein, das tue ich nicht.« Er horchte in sich hinein. »Ich weiß nicht, warum ich das eben gesagt habe. Woher kam das?«
Ehe sie antworten konnte, sah er eine Bewegung beim Haus, und Iris, die sie auch sah, wand sich von seinen Schultern herunter. Er setzte sie ab.
»Weg hier«, zischte sie.
Beim Haus war jetzt etwas zu hören, jemand öffnete die Tür, eine Hintertür, es gibt immer überall eine Hintertür. Sie saßen einen Moment lang geduckt auf dem Trampolin und lauschten. Da waren Schritte, doch sie kamen nicht vom Haus. Sie kamen von draußen, von außerhalb des umzäunten Gartens. Sie gingen auf die Hintertür im Zaun zu. Es gab nur ein einziges Versteck: Iris zog Lenz wortlos mit sich unter das Trampolin. Das Trampolin war hoch – immerhin war es ein Riesentrampolin –, doch das Gras hier war ebenfalls hoch; niemand schien bis ganz ans Trampolin heranzumähen. Lenz und Iris kauerten in einem so intensiven Geruch nach Sommer, nach Grün, nach nachwachsender, immer wieder vergehender und entstehender Biomasse, nach einem Exzess an Leben, dass es Lenz schwindelte.
Jemand rief jetzt bei der Hintertür.
»Karin! Karin?«
Vom Haus näherten sich die Schritte einer Frau.
Sie traf den Besitzer der Stimme an der Hintertür.
»Du bist spät dran«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ja«, sagte Kaminski. »Tut mir leid. Wir hatten noch ein paar Dinge zu besprechen …«
»Ihr wart bei Frau Ammerland.«
Lenz spürte, wie Iris seine Hand drückte.
»Ja. Waren wir. Er war nicht da.«
»Hat sie euch reingelassen?«
»Nein. Wir haben sehr höflich gebeten, aber man war nicht höflich zu uns. Wenn man für Recht und Ordnung sorgt, muss man manchmal grob sein. Es ist notwendig. Wir sind dann rauf, haben überall nachgesehen, sogar im Schlafzimmer. Die alte Ammerland hat sich vor die Tür gestellt, es war lächerlich, mit einer Blume in der Hand. Was wollte sie mit der Blume? Letztendlich haben sie uns aber nicht wirklich daran gehindert, keine von ihnen.«
»Ihnen?«
»Frau Pechten war bei ihr. Die mit den Kirchenfenstern. Ich weiß nicht, was sie da wollte. Ich hab ihr gesagt, sie soll sich um die Alte kümmern, als wir weg sind, obwohl, mehr als ein paar blaue Flecken hat sie sich sicher nicht geholt … am Ende mach ich mir dann doch wieder Sorgen … man ist ja zu weich. Alte Frauen und kleine Kinder, sie stehen da und sehen dich an, und schon wirst du
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