Friedhofskind (German Edition)
weich.« Er schüttelte den Kopf; sie standen jetzt direkt vor dem Trampolin, und Lenz sah sein Kopfschütteln schemenhaft durch die durchsichtige Kunststoffmembran.
Annelie, dachte er. Annelie, Annelie, Annelie. Ein paar blaue Flecken. Alles in ihm drängte darauf, aus seinem lächerlichen Versteck zu kriechen und sich auf Kaminski zu stürzen. Iris’ Hand hielt ihn zurück. Er spürte, was sie dachte; sie wusste so gut wie er, dass er dies nicht konnte: Du wärst doch nur ein kleiner Junge, sagte der Druck ihrer Hand, acht Jahre alt, ein wütender kleiner Junge, der sich auf einen Mann stürzt, ohnmächtig. Zwei Meter groß und trotzdem ohnmächtig. Du hast keine Ahnung, wie man das macht. Wie man wütend wird, wenn man erwachsen ist, und wie man sich unter Erwachsenen prügelt. Du hast es nie gelernt. Und so kauerte er weiter mit Iris in dem lächerlichen Versteck.
»Die Ammerland mit ihrer Blume … die geht mir nicht aus dem Kopf. Der alte Fuhrmann hatte nicht solche Probleme damit, dass wir uns in seinem Haus umgesehen haben. Ein dusteres Dreckloch, ich kann dir sagen …«
»Das will ich gar nicht hören.«
»Der alte Fuhrmann, der hat keine Ahnung, wo unser Friedhofskind sich verkriecht, dem nehm ich das ab. Die Ammerland, die ja. Die weiß doch, wo er ist! Irgendwie werden wir’s aus ihr herauskriegen müssen … aber wie grob willst du sein? Alte Frauen sind zerbrechlich.«
»Junge auch«, sagte Karin, und sie sagte es in einem seltsamen Ton, den Lenz zunächst nicht zu deuten wusste. Sie sagte es, als spräche sie über etwas Weiches, Süßes. Etwas wie Pudding mit künstlichem Vanillegeschmack. »Warst du denn sehr grob?«
»Soll ich dir zeigen, wie grob ich sein kann?«, fragte Kaminski, und auch sein Ton passte nicht zum Inhalt des Satzes, auch seine Stimme war wie etwas, das schmolz. Lenz sah durch die Membran, wie nahe die beiden jetzt zusammenstanden, Karin und Kaminski, und auf einmal schlug das Gespräch um wie der Wind, der im Frühjahr von Nordosten und gegen Herbst aus Südwesten über das Wellenland ging.
»Ich kann Leute festhalten, wenn ich grob bin«, flüsterte Kaminski. »Sehr fest.«
Und er hielt sie fest, die Frau neben sich, er hielt sie mit einer Hand und streifte ihr mit der anderen die Bluse ab, und dann drückte er sie hinunter auf die Fläche des Riesentrampolins, mit dem Gesicht nach unten. Sie wehrte sich nicht.
»Bist du nicht vielleicht noch ein bisschen gröber?«, flüsterte sie.
»Vielleicht«, flüsterte er zurück. Er ließ Karin für Sekunden los, öffnete ihren BH und kurz darauf den Verschluss ihrer engen Jeans, und dann lag sie vollkommen nackt mit dem Oberkörper über dem Trampolin, Zentimeter entfernt von Lenz. Sie sah ihn nur deshalb nicht, weil es unter dem Trampolin dunkel war. Vielleicht auch, weil sie die Augen geschlossen hatte.
Er sah sie sehr gut, er sah, wie sich ihre Brustwarzen gegen die Membran des Trampolins drückten, und wich zurück; halb entsetzt, halb fasziniert. Neben ihrem Körper sah er noch immer Kaminski, der sich sein eigenes Hemd mit einer ungeduldigen Bewegung vom Leib riss und den Gürtel seiner Hose löste.
»Dirk kommt zurück«, flüsterte Karin. »In zwei Wochen.«
»Ach was. Er wollte im Juni schon hier sein …«, knurrte Kaminski und fuhr mit der Hand ihren Rücken entlang, als streichelte er eine Katze.
»Sie haben den Auftrag verlängert. Jetzt kommt er wirklich.«
Kaminski schnaubte. »Und dann bleibt er eine Woche oder zwei, allerhöchstens einen Monat. Und dann ist er wieder weg. Ich werd dir eins sagen, deinen Dirk kümmerst du einen Dreck, du und die Kinder, dem ist es doch egal, ob da draußen ein Verrückter herumläuft, der die Leute umbringt …«
»Red nicht so über ihn.« Seltsam, das Weiche war immer noch in ihrer Stimme. »Er ist dein Freund.«
»Ich rede, wie ich will!«, rief Kaminski, und jetzt riss er die Katzenfrau vom Trampolin hoch, die Nackte, die nächtlich Mondbeleuchtete, und hielt sie auf Armeslänge von sich ab, seine Finger gruben sich ins Fleisch ihrer bloßen Oberarme; Lenz sah, wie sie sich wand.
»Sch, sch«, machte sie. »Nicht so laut. Das Kinderzimmerfenster steht auf Kipp … sch … sch …« Sie wand sich weiter, ja, wie eine Katze, die sich sträubte, und er hielt sie weiter fest. Doch auch der Kampf zwischen den beiden schmeckte nach Vanillepudding. Lenz wandte den Kopf und sah Iris an, und in ihren Augen lag das gleiche Befremden. Er wünschte, er hätte mir
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