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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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der Feuerlilien aus der Vase und schien einen Moment lang versunken in den Anblick ihrer rot geflammten Blütenblätter. Dann polterten die Stiefel die Treppe hinauf. Frau Ammerland fasste die Blume fester, wie eine Waffe. Siri folgte den Stiefeln und ihr ins erste Stockwerk.
    Am Kopf der Treppe blieben die vier einen Moment lang stehen, unschlüssig, wohin sie sich zuerst wenden sollten, und es gelang Frau Ammerland, an ihnen vorbeizuschlüpfen. Sie stellte sich vor eine der Türen, und Kaminski wandte sich ihr zu und lächelte.
    »Gut, dass Sie uns zeigen, wo wir nachsehen müssen.«
    »Dies ist mein Schlafzimmer«, sagte Frau Ammerland fest. »Ich wünsche nicht, dass ihr mit euren sehr sauberen Schuhen hier hereinkommt. Es geht euch nichts an, wie das Schlafzimmer einer älteren Dame aussieht.«
    Kaminski lachte, und sein Lachen setzte sich fort, auch die anderen lachten, wenngleich unsicher.
    Das Fenster, dachte Siri. Wenn er es schafft, aus dem Fenster zu klettern … er ist dort. Er muss dort sein.
    »Lassen Sie uns vorbei«, sagte Kaminski.
    »Nein«, sagte Annelie.
    Sie hielt noch immer die Lilie in der Hand. Siri dachte an die Filme, all die Filme, in denen uniformierte Männer Häuser durchsuchten, Filme, in denen die Sucher immer, immer fanden. Aber die Filme waren aus einer Zeit, die lange zurücklag …
    Kaminski packte Frau Ammerland am Arm und zog sie von der Tür weg, aber Frau Ammerland wehrte sich, sie schlug ihm die Lilie ins Gesicht, eine Geste, die in einem Comic lustig gewesen wäre. In der Realität war sie nicht lustig. Kaminski knurrte und hob die Faust. Siri schlug die Hände vors Gesicht.
    Sie hörte den Schlag, sie hörte einen Körper fallen, sie hörte die Stiefel ein Zimmer betreten, die Schritte stockend, als müssten sie über etwas steigen. Kaminski fluchte. Siri stand noch immer ganz still, dicht an die Wand neben der Schlafzimmertür gedrückt, hörte, wie mehr und mehr Türen aufgerissen und wieder zugeworfen wurden. Und dann packte jemand sie am Arm.
    »Machen Sie die Augen auf«, sagte Kaminski. Der Ausdruck auf seinem Gesicht schwankte zwischen Wut und Scham. »Kümmern Sie sich um die Alte«, knurrte er. »Holen Sie einen Arzt.«
    Damit ließ er Siri los, und die stiefeltragende Einheitsmasse der Männer verschwand die Treppe hinunter. Die Haustür fiel ins Schloss. Siri fiel auf die Knie, neben Frau Ammerland, die in der offenen Tür des Schlafzimmers lag. Sie musste mit dem Kopf gegen den Türrahmen gefallen sein, Blut färbte den Ansatz ihrer sorgfältig frisierten weißen Haare rot. Sie sah Siri an und lächelte.
    In einer Hand hielt sie noch immer die Lilie, verknickt jetzt und zerquetscht. Einer der Stiefel war auf die Blüte getreten.
    Im Schlafzimmer war das Bett zur Seite und nicht wieder ganz richtig an die Wand gerückt worden, ein Bett mit aprikotfarbenen Seidenbezügen. Die kleine Kommode stand schräg mitten im Zimmer, der Teppich war zerwühlt. Es war niemand dort. Das Fenster war geschlossen.
    »Er war nie hier«, flüsterte Siri.
    »Nein«, flüsterte Frau Ammerland. »Nicht in den letzten beiden Wochen.«
    »Aber warum das ganze Theater? Warum haben Sie so getan, als wäre er …?«
    Frau Ammerland lächelte noch immer. »Sie werden nicht wagen«, flüsterte sie, »wiederzukommen. Deshalb. Oder vielleicht aus Prinzip.«
    Siri schob einen Arm unter ihren Nacken und setzte sie auf. »Das war es nicht wert«, sagte sie.
    »Das Prinzip ist es immer wert«, sagte Frau Ammerland. »Das Bad … das Bad ist da drüben. Können Sie mir ins Bad helfen? Verbandszeug liegt in der obersten Schublade.« Sie lächelte weiter, sie lächelte die ganze Zeit, sie lächelte, während Siri die Wunde an ihrer Schläfe säuberte, sie lächelte Siri im Spiegel an.
    »Gebrochen ist nichts, glaube ich«, sagte sie. »Stabile Knochen. Trotz des Alters. Wissen Sie … es kommt mir seltsam vor. Sonst war es immer der Junge, den ich verbunden habe. Aber seit Sie im Dorf sind, ist das Gleichgewicht aus den Angeln gehoben.« Sie streckte eine zitternde Hand nach Siri aus, die sich zu ihr hinablehnte, und berührte noch einmal ihr Haar.
    »Wo ist er?«, flüsterte Siri. »Wo ist Lenz?«
    »Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüsste es.« Sie fuhr mit zwei Fingern durch Siris Haar.
    Siri schüttelte den Kopf. »Warum haben Sie gefragt, ob es einmal blond war?«
    »Ich bin müde«, sagte Frau Ammerland. »Sehr, sehr müde. Würden Sie mich nach drüben bringen, zu meinem Bett? Ich

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