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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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fühle mich ein wenig schwach auf den Beinen.«

11
    Es war seltsam, dachte Lenz, sie waren auf gewisse Weise nicht mehr da. Sie waren stumme Beobachter geworden, Iris und er gleichermaßen. Iris hatte immer nur durch ihn an den Dingen teilgenommen, nun nahm sie, an seiner Seite, nicht mehr teil.
    Manchmal kamen sie nachts heraus, zusammen mit den Mardern, den Mäusen, den Holzkäfern, – die Nacht war die Zeit der Schädlinge –, und sie wanderten ihren Mondschatten nach durchs Dorf, an den Häuserklumpen vorbei, Hand in Hand. Er fragte sich zum ersten Mal, wie es kam, dass Iris einen Schatten hatte.
    Ihre kleine Hand lag immer noch vertrauensvoll in der seinen, doch wenn sie jetzt etwas am Wegesrand rascheln hörte, zuckten sie gemeinsam zusammen.
    Sie besuchten den Friedhof im Dunkeln, saßen zusammen auf der Bank oder auf der Eiche und sahen die Nachtwolken vorüberziehen. Die Nächte waren nicht mehr kalt. Manchmal schlich Lenz Werter noch immer nach. Er hatte die Entdeckung gemacht, dass Werter nachts spazieren ging, lang und alleine, die Hände tief in den Taschen vergraben, wie in Gedanken. Aber im Grunde, dachte Lenz, war es unsinnig geworden, Werter zu schützen, um seine eigene Unschuld zu beweisen.
    »Es könnte so bleiben, weißt du«, sagte er eines Nachts, als sie wieder auf der Eiche saßen. »Ich könnte sein wie du. Niemand würde mich sehen, obwohl ich da wäre. Ein interessanter Gedanke. Niemand könnte mich mehr misstrauisch ansehen, und ich würde nie mehr vor die Fäuste von irgendwem geraten, gegen den ich mich dann doch nicht wehre. Niemand würde mich mehr irgendeiner Sache beschuldigen … vielleicht würden sie mich sogar vergessen, auf die Dauer.«
    Iris lehnte sich an ihn und sah zum Mond auf, der zwischen den Ästen der Eiche hing. »Das kannst du nicht«, flüsterte sie. »Nicht für immer. Du bist ein Mensch, und du brauchst die Menschen.«
    »Warum?«
    »Erstens«, sagte Iris und lachte, »weil du essen musst. Winfried merkt irgendwann, dass du Essen aus der Küche mitnimmst.«
    »Das glaube ich nicht. Es wird ja nicht weniger. Annelie hat angefangen, mit seinem Geld bei dem fahrenden Laden für ihn einzukaufen …«
    »Da hast du zweitens. Die Menschen selbst. Annelie. Und Winfried natürlich.«
    »Ich brauche weder Annelie noch Winfried. Ich habe dich.«
    Iris legte die Arme um ihn. »Ja, schon. Trotzdem … und dann gibt es noch drittens.«
    »Drittens? Auch noch?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du älter geworden wärst, wärst du Mathematikerin geworden, was?«
    »Drittens befindet sich hinter einem Kellerfenster, durch das du schon vier Mal versucht hast, durchzugucken, ohne dass ich es merke.«
    Lenz sah hinauf ins grüne Laub der Eiche. Er antwortete nicht.
    »Erzähl mir, was du denkst, wenn du an sie denkst. Ich würde so gern etwas Romantisches hören. Mama hat immer romantische Bücher gelesen, früher … sie hat ihre Augen hinter dieser Sonnenbrille versteckt, damit niemand es gemerkt hat, wenn sie weinen musste … ab und zu hat sie mir von dem erzählt, was in den Büchern stand. Damals fand ich es langweilig. Jetzt … vermisse ich es manchmal. Erzähl. Alles, was romantisch ist, ist wunderbar.«
    »Es ist nicht romantisch«, sagte Lenz. »Ich meine … ich kann versuchen, etwas Romantisches für dich zu erfinden. Sie mag Leute, die Kaninchen retten. Wenn es eine Welt gäbe, in der es nichts gäbe außer …«
    »Außer Kaninchen?«
    »Ich glaube«, sagte Lenz, »das ist ein unsinniges Gespräch.«
    Zwei Wochen nach dem Beginn seiner schattenhaften Nichtexistenz im Dorf fand Iris einen Weg, an das Trampolin hinter dem mannshohen Maschendrahtzaun zu kommen.
    »Die Hintertür im Zaun schließt nicht mehr richtig«, sagte sie. »Jedenfalls steht sie jetzt immer einen Spalt weit offen. Es gibt immer überall eine Hintertür, nicht nur in der Friedhofsmauer.«
    »Du brauchst keine Hintertür, um durch den Zaun zu kommen«, sagte Lenz.
    »Nein«, sagte Iris. »Aber du. Ich habe dir gesagt, dass das Trampolin bei mir nicht funktioniert. Es spürt mein Gewicht nicht. Aber ich würde es immer noch schrecklich gerne ausprobieren. Ich habe gedacht, wir könnten zusammen darauf hüpfen, es ist groß genug. Ich setze mich auf deine Schultern, und du hüpfst.«
    Er schüttelte den Kopf, doch sie nahm seine Hände in ihre und sah ihn mit ihren Blauaugen an, den Kopf schief gelegt, das ganze kleine Gesicht eine Bitte.
    »Ich habe vielleicht nicht mehr lange«, sagte

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