Friedhofskind (German Edition)
geschehen durfte.
Das Päckchen Zigaretten fiel herunter, und Kaminski fluchte leise und bückte sich danach. Seine Hand suchte einen Moment im Gras, seine Augen suchten mit der Hand, dann suchten die Augen unter dem Trampolin. Und trafen Lenz’ Augen.
Sie starrten sich gegenseitig an. Kaminski brauchte einen Moment, um zu begreifen. Auch um zu begreifen, wem die Augen gehörten. Sein Gesicht durchlief eine ganze Reihe von Ausdrücken in einer einzigen Sekunde – Schrecken, Überraschung, Unbehagen, Scham, Erkennen, Unglauben –, und schließlich stand nur noch eines in diesem Gesicht: eine unbändige, unbezähmbare, zügellose Wut.
Lenz glitt rückwärts unter dem Trampolin hervor, war mit einem Satz bei der Hintertür im Maschendrahtzaun und draußen.
Er hörte Kaminskis Schrei hinter sich, einen unartikulierten, unheimlichen Schrei. Als er sich umdrehte, mitten im Rennen, sah er ihn am Maschendrahtzaun stehen, nackt, einen Arm erhoben, die Hand zur Faust geballt, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Karin, die Katzenfrau, stand hinter ihm und hielt ihn am anderen Arm fest, und er folgte Lenz nicht, nicht sofort, nicht nackt.
Drinnen im Haus ging ein Licht an, eines der Kinder war aufgewacht, und Lenz wandte sich ab und konzentrierte sich aufs Rennen. Er hatte Kaminskis Schrei verstanden, auch ohne Worte.
Warte nur. Warte nur! Jetzt erst recht.
Als er sehr viel später, nach einer Menge Hakenschlagen und Umwegen, auf die alte Matratze sank, auf der er seit zwei Wochen schlief, rannte sein Herz noch lange ohne ihn weiter. Es rannte wie eines der weichen, warmen Kaninchen, die sich an ihn schmiegten. Die Kaninchen kamen stets zu ihm, ohne dass er sie lockte, sie kamen einfach, es war merkwürdig; sie bildeten eine lebende Pelzdecke. Sie wärmten ihn, wenn die Nächte kühl wurden, sie leisteten ihm Gesellschaft, wenn er zu allein war. Die Kaninchen waren das einzig Lebendige, das ihm vollkommen vertraute.
Er schloss die Augen und vergrub seine Nase in ihrem Fell.
Kaminski, dachte er, würde ihn umbringen, wenn er ihn je zu fassen bekam. Kaminski war jünger als er und zu viert, wenn es darauf ankam. Aber vielleicht, dachte Lenz, bin ich ein Mörder, wenn es darauf ankommt. Falls es wahr ist, was sie alle denken – dass ich Iris umgebracht habe und Aljoscha und Frau Henning, falls es wahr ist –, dann hat Kaminski nicht mehr viele Gelegenheiten, die Katzenfrau auf dem Trampolin zu ficken.
Er hasste das Wort und das Bild.
»Aber wenn ich Kaminski umbringe«, flüsterte er. »Dann will ich mich wenigstens später daran erinnern, hört ihr? An jede einzelne Sekunde. Ich muss endlich aufhören, Dinge zu vergessen.«
Er fand Iris am nächsten Morgen am Hafen, auf Aljoschas Boot, als das frühe Licht noch wässrig orange ins Hellblau der Wolken verlief, der Himmel ein unfertiges und möglicherweise gerade misslingendes Aquarell. Jemand hatte zu viel Wasser benutzt.
Iris’ Mutter hatte Aquarelle gemalt, er erinnerte sich an diesem Morgen wieder daran; wenn sie sich nicht hinter ihrer Sonnenbrille und hinter ihren Büchern versteckt hatte, hatte sie gemalt. In blassen Pastellfarben, zart, sanft … unentschlossen. Sie war eine in allem unentschlossene Person gewesen, zurückhaltend, zögernd. Passiv. Als er Iris an diesem Morgen ansah, wie sie auf der Kajüte des kleinen Fischerbootes saß und mit den Beinen baumelte, versuchte er, ihre Mutter in ihr zu finden. Er fand sie nicht; ihr Äußeres vielleicht, ihr Haar war das gleiche, aber das war alles.
Er erinnerte sich an einen Nachmittag, an dem Iris ihn mitgenommen hatte durch das Gartentor der letzten Datsche der Feriensiedlung, hinein in das Idyll der sorgsam beschnittenen grünen Hecken. Ihre Mutter hatte sich nicht einmal dazu entschließen können, ihn hinauszuschmeißen, sie hatte ihm ein dünnes Lächeln und eine Handvoll Bonbons geschenkt und gehofft, er würde von selbst wieder gehen, aber Iris wollte nicht, dass er ging, sie wollte, dass er mit ihr Verstecken spielte, in der Datsche, es gab eine Menge guter Verstecke dort. In der winzigen Ferienhausküche gab es sogar eine Luke im Boden, die zu einer Art ebenso winzigem Kartoffelkeller führte, und Iris ließ Lenz eine geschlagene halbe Stunde suchen, ehe sie die Luke öffnete, als er direkt danebenstand, und über sein verblüfftes Gesicht lachte. Später spielten sie Ball zwischen den Hecken. Lenz vergaß Iris’ Mutter beim Ballspielen. Es war seltsam, sich jetzt zu erinnern, dass man
Weitere Kostenlose Bücher