Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Herzen an. Erst durch den Scharfblick des Mannes, dem zu Ehren diese ganze Untersuchung unternommen wird, ist jenes erste Zeugniß ans Licht gestellt worden.» Ritschl am Ende; kein wühlender Maulwurf unter den zahlreichen Philistern in dieser emsigen Zunft, sondern ein leuchtender Stern. Nietzsche verdankte ihm viel. Aber auch seine wegweisende Arbeit führte den Schüler auf Aussichtspunkte, die mehr im Blick hatten als die Ergebnisse philologischer Forschung. Es tauchen Namen auf und Begriffe in den Notizbüchern der Militärzeit, die nachhaltig sind und seinem eigenen Werk Konturen verleihen. «Ideenschöpfer» gegen die «Systematiker» , «Ethik» und «Materialismus» , also hier Demokrit, gegen eine «faustische Natur» wie Thrasyll. Heraklit schließlich, der zu Unrecht immer der «Dunkle» genannt wurde. Der Lehrer des ewigen Auf und Ab aller Dinge, der die weltbildende Kraft mit einem Kind vergleicht, das spielend Steine und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft, wird für Nietzsche einmal zur Symbolfigur seines Kreislaufgedankens. Jetzt notierte er: «Die Mißachtung Heraklits als eines dunklen verschrobenen Kopfes (Lukrez I. 638ff) gehört der demokrit.[ischen] Schule an.» Die Richtung, die er selbst einschlagen sollte, war schon ganz klar.
Dass der angehende Reserveoffizier aber so überaus kontemplativ sein und so viele Notizbücher vollschreiben konnte, hatte leider auch einen bedauernswerten Zwischenfall auf dem Exerzierplatz als Hintergrund. Ob es nun sein liebes Ross Balduin war oder ein anderes Pferd – «Zuletzt ritt ich das feurigste und unruhigste Thier der Batterie» , berichtet er Gersdorff, was recht wenig nach seinem freundlichen Balduin klingt – ein Missgeschick bereitete seiner Militärzeit ein vorgezogenes Ende. «Eines Tages», so Nietzsche im selben Brief, «mißlingt mir in der Reitstunde ein schnell ausgeführter Sprung aufs Pferd; ich traf mit der Brust hart auf den Vorderzwiesel und spürte in der linken Seite einen zuckenden Riß. Ich ritt ruhig weiter und hielt auch noch anderthalb Tage den wachsenden Schmerz aus. Am zweiten Tage abends aber kamen zwei Ohnmachten und am dritten lag ich fest und wie angenagelt unter den heftigsten Schmerzen und starkem Fieber zu Bett. Es ergab sich durch ärztliche Untersuchung, daß ich mir zwei Brustmuskeln zersprengt hatte. Die Folge war ein entzündlicher Zustand des ganzen Muskel- und Bändersystems im Oberkörper und eine mächtige Eiterung, durch die Blutversetzung bei der Zerreißung herbeigeführt. Als etwa nach 8 Tagen ein Schnitt in die Brust gemacht wurde, kamen mehrere Tassenköpfe voll Eiter hervorgestürzt. Seit jener Zeit, dh. seit einem Vierteljahr hat die Eiterung nicht aufgehört.» Der Brief stammt vom 22. Juni 1868. Im Oktober kehrte Nietzsche wiederhergestellt, voll genesen nach Leipzig zurück. Der stolze Kavallerist, in der verbliebenen Restzeit für dienstuntauglich erklärt, war damit wieder zum Gelehrten geworden. Es gibt ein Erinnerungsphoto aus dieser Zeit: Nietzsche in Uniform, einen gewaltigen Säbel haltend, mit strengem Blick, aufgezwirbeltem Schnurrbart und Brille. Auf einer verschnörkelten Anrichte neben dem Gefreiten «von der 2ten Batterie des Magdeburgischen Feldartill.reg. Nr. 14» liegt ein Pickelhelm – ein Genrephoto, wie man es auch einer geduldig daheim wartenden Verlobten aus dem Felde schicken könnte. Im zwei Jahre später ausbrechenden Deutsch-Französischen Krieg würde sich der Reserveoffizier Friedrich W. Nietzsche als Sanitäter freiwillig melden. Er kam wenig zum Durchatmen in diesen Jahren. Die Professur, die Ritschl ihm in Basel verschaffte, ohne Promotion und Habilitation und in einem Alter, in dem andere noch ihr Studium bestreiten, war eine einmalige Chance; darüber durfte im Grunde nicht nachgedacht werden. Nach der Berufung im Februar 1869 bereitete Friedrich Nietzsche seine Abreise vor. Sobald er nachdachte, kamen ihm allerdings Zweifel, und die gestand er seinem Freund Rohde, mit dem er ja nun auch nicht nach Paris reisen konnte, was wirklich bedauerlich war, denn eine Auflockerung wäre ihm vielleicht gut bekommen. Die Philologie bezeichnete Nietzsche damals dem Freund gegenüber als «Urväter-Hausrat» . Er habe ihm gerade vorschlagen wollen, gemeinsam Chemie zu studieren. Das «Schicksal» , das ihn nun packte und fortzog, bei allen Verlockungen, so jung solche Höhen des akademischen Ruhms erklommen zu haben, war ihm zeitweise nicht ganz geheuer. Seine Familie in
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